Professor Dietrich von Engelhardt – „In freiem Vortrag und freundschaftlicher Verbundenheit“

„In freiem Vortrag und freundschaftlicher Verbundenheit“

Entstanden im Geist des Aufbruchs war die GDNÄ immer wieder ein Forum für große Debatten und nachdenkliche Analysen. Wie sie das über fast zwei Jahrhunderte geschafft hat, schildert hier der Wissenschaftshistoriker Dietrich von Engelhardt.

Herr Professor von Engelhardt, im kommenden Jahr wird die GDNÄ 200 Jahre alt. So lange halten längst nicht alle Wissenschaftsorganisationen durch. Wie erklären Sie die Robustheit der GDNÄ?
Vor allem mit ihrer Einzigartigkeit – auch im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Gesellschaften. Ihr Kernanliegen ist seit ihrer Gründung 1822 der interdisziplinäre Austausch zwischen Naturwissenschaftlern und Medizinern ebenso wie die Verbindung zu Philosophie und Gesellschaft. In den Geisteswissenschaften ist dieses Interesse an anderen Disziplinen nicht so ausgeprägt, eine vergleichbare übergreifende geisteswissenschaftliche Gesellschaft gibt es nicht. Was die GDNÄ auch stabilisiert hat, sind die großen wissenschaftlichen Debatten, die auf ihren Versammlungen geführt wurden und die weit in Gesellschaft und Kultur ausstrahlten.

An welche Debatten denken Sie?
Zum Beispiel an die Auseinandersetzungen über Naturwissenschaft und Naturphilosophie, über die Freiheit der Forschung, Darwins Evolutionslehre, Mechanismus und Vitalismus sowie über Popularisierung und Schulunterricht. Ich denke etwa an Emil du Bois-Reymonds Rede auf der 45. Versammlung 1872 in Leipzig über die „Die Grenzen des Naturerkennens“, in der es um die nach seiner Ansicht grundsätzlich naturwissenschaftlich nicht erkennbaren Beziehungen von Kraft und Stoff, von Leib und Seele ging. Die Rede provozierte Zustimmung und Widerspruch – ebenso wie Ernst Haeckels Eintreten für Darwin und den Darwinismus. Auch Rudolf Virchow löste mit seinem Plädoyer für die Freiheit der Wissenschaft und für den Verzicht auf die Verbreitung von Unbewiesenem im Schulunterricht und in der Öffentlichkeit vielfältige Reaktionen aus.

Die GDNÄ als Forum für große Debatten: Kann sie das heute noch?
Heute gibt es viele weitere Plattformen für den Wettstreit der Ideen, die GDNÄ hat starke Konkurrenz bekommen. Ihre Glanzzeit lag sicher im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Aber auch in unserer Zeit sehe ich große Chancen für die GDNÄ, sei es im Bildungsbereich oder im Dialog der Disziplinen und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft und Kultur. Die Resonanz vieler Versammlungen hat das eindrucksvoll gezeigt. Ein wichtiges und öffentlichkeitswirksames Thema ist in dieser Perspektive auch „Wissenschaft im Bild“, dem sich schwerpunktmäßig die Versammlung 2022 in Leipzig widmen wird.

© Deutsches Museum, München, Archiv, CD79207

Tagen in Sektionen: Die Abteilung Mathematik und Astronomie im Gruppenbild bei der GDNÄ-Versammlung 1890.

Lassen Sie uns noch einmal zu den Anfängen zurückkehren. In Leipzig fand die erste Versammlung der GDNÄ statt, im Herbst des Jahres 1822. Um was ging es den Gründern?
Treibende Kraft war der Naturforscher und Naturphilosoph Lorenz Oken. Er hatte eine Gruppe Gleichgesinnter um sich geschart, darunter den romantischen Naturphilosophen, Maler und Arzt Carl Gustav Carus und den Chemiker und Mythenforscher Johann Salomo Christoph Schweigger. Einmal im Jahr und immer in einer anderen Stadt, daher der Beiname Wandergesellschaft, wollte man sich gegenseitig über den Stand eigener Forschungen informieren – in freiem Vortrag und freundschaftlicher Verbundenheit, aber auch in offener Auseinandersetzung. Den Gründern ging es um einen lebendigen Austausch, auch als Gegenentwurf zu den Ritualen der damals schon lange bestehenden Universitäten und Wissenschaftsakademien.

Ist das von Anfang an gelungen?
Soweit es sich aus den Quellen erschließen lässt, ja. Okens Aufrufen zur Versammlung der deutschen Naturforscher waren 1822 beim ersten Treffen 13 Naturforscher und Ärzte als Mitglieder gefolgt, insgesamt nahmen 60 Personen an den Vorträgen und Diskussionen teil. Später wurden es dann deutlich mehr, gelegentlich kamen 5000 bis 7000 Besucher. In der Gegenwart sind die Zahlen der Mitglieder und Besucher wieder zurückgegangen – jüngere Wissenschaftler setzen für ihre Laufbahn und ihre Forschung andere Akzente. In den Anfangsjahren ging es in den Vorträgen, ganz im Geist der romantischen Naturphilosophie, um die Einheit der Natur, die Verbindung von Natur und Geist, die Verantwortung des Menschen für die Natur und auch um soziales Engagement. Nach lebhaften und teils kontroversen Diskussionen klangen die Tage in geselliger Runde unter geistreichen Tischreden und gemeinsamen Gesängen aus.

Ließ sich das so durchhalten?
Nicht ganz. 1828 kam es zu einer tiefergehenden strukturellen Veränderung und durchaus auch zur ersten Krise. Alexander von Humboldt hatte sich in seiner Festrede bei der Versammlung in Berlin entschieden für die Bildung von Sektionen neben den allgemeinen Sitzungen ausgesprochen, um dem wissenschaftlichen Fortschritt in den einzelnen Disziplinen angemessen und in divergenter Debatte entsprechen zu können. Diese Initiative sollte sich als ungemein wichtig für den Fortbestand der Gesellschaft erweisen, stieß aber anfangs auch auf Widerstand. Manche befürchteten ein Auseinanderdriften der Disziplinen, also eine Entwicklung, der man mit der Gründung der GDNÄ hatte entgegenwirken wollen. Auch Lorenz Oken war keineswegs begeistert von der Einteilung in Sektionen, die sich dann aber doch durchsetzte. Vollständig aufgehoben wurde die Gemeinsamkeit jedoch keineswegs: So schrieb die örtliche Tageszeitung über das abendliche Zusammensein bei der 67. Versammlung 1895 in Lübeck: „Man speiste sektionsweise und sang gemeinschaftlich.“

Wie hat Oken reagiert?
Er zog sich etwas zurück und nahm nicht mehr an allen Versammlungen teil. Eigene Aktivitäten und Verpflichtungen beanspruchten ihn in jenen Jahren stark. Oken war ein engagierter, streitbarer Mensch, der ein einiges Deutschland anstrebte, für die Pressefreiheit kämpfte und seinen Gegnern mutig die Stirn bot – auch wenn sie Landesherren waren oder Johann Wolfgang von Goethe hießen. Er schrieb und publizierte sehr viel, setzte sich für einen naturwissenschaftlichen Unterricht an den Schulen ein, gab die erste fachübergreifende wissenschaftliche Publikation „Isis oder Encyclopädische Zeitung“ heraus – sie erschien von 1819 bis 1848 – und ging schließlich nach Zürich. Dort ernannte man ihn zum ersten Rektor der Universität und dort starb er 1851.

© Deutsches Museum, München, Archiv, CD85577

Blick ins Auditorium bei der Feier zum 150-jährigen Bestehen der GDNÄ in München im Oktober 1972.

Zu diesem Zeitpunkt war die GDNÄ dreißig Jahre alt. Wie stand es um sie?
Es ging ihr sehr gut. Ihre Versammlungen waren Höhepunkte des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, wer als Naturforscher oder Arzt auf sich hielt, war Mitglied der GDNÄ. Sie vereinte die naturwissenschaftlich-medizinische Elite Europas. In den Vorträgen, die in Verhandlungsbänden abgedruckt wurden, spiegelte sich die Entwicklung der Naturwissenschaften und Medizin im 19. Jahrhundert wider. Zu den Versammlungen kamen Forscher aus Italien, England, Frankreich, Russland und anderen Ländern, auch wenn das für einige politisch nicht ungefährlich war. Angeregt durch das Vorbild der GDNÄ entstanden ähnliche Gesellschaften im Ausland: 1831 die British Association for the Advancement of Science oder zwei Jahre später die Congrès Scientifiques de France und 1839 die italienischen Riunioni degli Scienziati Italiani. In Deutschland gingen aus der GDNÄ zahlreiche naturwissenschaftliche und medizinische Fachgesellschaften hervor – in der Physik ebenso wie in Chemie, Pharmazie, Pathologie, Gynäkologie, Chirurgie und Psychiatrie.

Das 20. Jahrhundert war gezeichnet von Krieg und Wiederaufbau. Wie wirkte sich das auf die GDNÄ aus?
Während beider Weltkriege setzten die Versammlungen aus. Während des Dritten Reiches war die Situation in den drei Versammlungen 1934 in Hannover, 1936 in Dresden und 1938 in Berlin ausgesprochen komplex. In ihren Begrüßungsreden bejahten die Ersten Vorsitzenden in teils opportunistischer Rhetorik, teils mit innerer Überzeugung die neue nationalsozialistische Zeit. Sie beschäftigten sich in unterschiedlicher Akzentuierung mit dem Verhältnis von deutscher und internationaler Forschung, sprachen von einer Orientierung am Volkswohl und dem Nutzen für die Menschheit und hoben zugleich dankbar die Teilnahme ausländischer Wissenschaftler hervor.  Die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fachvorträge waren überwiegend frei von nationalsozialistischer Ideologie, wobei die erbbiologischen Vorträge durchaus den rasseideologischen Diskussionen der Zeit entsprachen. Übergreifende Vorträge wie zum Beispiel von Werner Heisenberg über die „Wandlungen der Grundlagen der exakten Naturwissenschaften in jüngster Zeit“ im Jahr 1934, von Walter Gerlach zum Thema „Theorie und Experiment in der exakten Wissenschaft“ im Jahr 1936 oder von Ludwig Aschoff 1936 über „Pathologie und Biologie“ fielen rein wissenschaftlich und theoretisch aus und ausdrücklich ohne jede Verbindung zur Welt der Politik. Die erste Nachkriegsversammlung fand erst wieder 1950 in München statt – mit einer Festrede des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss.

Seitdem sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Gibt es in diesem langen Zeitraum eine prägende, bis heute spürbare Entwicklung, die Sie herausgreifen würden?
Ja, sie hat mit dem ungestümen Fortschrittsoptimismus zu tun, der das ausgehendende 19. Jahrhundert und beginnende 20. Jahrhundert kennzeichnete und der spätestens in den 1970er-Jahren problematisiert wurde. Der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges umriss die neue Haltung 1972, anlässlich des 150jährigen Bestehens der GDNÄ, wie ich finde sehr treffend: „Wir erwarten am Ausgang des 20. Jahrhunderts nicht mehr, dass mit dem Fortschreiten naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Erfindungen eine rationale gesellschaftliche Entwicklung gekoppelt sei.“ Allerdings, so fügte er hinzu: „Wir bleiben überzeugt, dass Wissenschaft immer noch das zuverlässigste Instrument ist zur Bewältigung des Fortschritts.“

Welche Bedeutung kommt der GDNÄ heute zu? Welche Funktion kann sie im Spektrum der Wissenschaftsorganisationen übernehmen?
Wichtig ist der Dialog mit der Öffentlichkeit, den die GDNÄ immer gepflegt hat. Im 19. Jahrhundert schrieben führende Naturforscher wie der Naturforscher und Naturphilosoph Gotthelf Heinrich von Schubert naturwissenschaftliche Bücher für den Schulunterricht. Heute gibt es so etwas leider nicht mehr. Eine Bildungskommission der GDNÄ hatte Mitte der 1990er-Jahre überzeugende Konzepte für die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung als, wie sie es formulierte, „fachübergreifenden Fachunterricht“ entwickelt. Die Umsetzung in Lehrerbildung und schulischem Alltag steht allerdings noch aus. Zudem ist die GDNÄ als unabhängige Einrichtung hervorragend geeignet, für Gesellschaft und Kultur zentrale und umstrittene Fragen aus den Naturwissenschaften und der Medizin aufzugreifen und in die öffentliche Diskussion zu bringen. Nicht zuletzt wünsche ich mir einen Brückenschlag zu den Geisteswissenschaften, auch um Zusammenhänge zwischen Welt- und Selbsterkenntnis zu beleuchten und einen Beitrag zur Lösung ethischer und juristischer Herausforderungen der Gegenwart zu leisten.

Eine Frage zum Abschluss: Heute klingt die Bezeichnung „Naturforscher“ im GDNÄ-Namen etwas antiquiert. Was verstand man vor zweihundert Jahren darunter?
Wenn wir die naturphilosophischen Dimensionen weglassen, meinte Naturforschung damals ungefähr das, was wir heute unter Naturwissenschaften verstehen. Dass dieser Begriff sich schließlich durchsetzte, hat mit Einflüssen aus dem Ausland und der englischen Sprache zu tun. Ich halte den Begriff „Naturforscher“ weiterhin für sinnvoll, attraktiv und keineswegs für antiquiert. Er betont im Unterschied zu „Naturwissenschaft“ und in Übereinstimmung mit dem französischen „recherche“ und englischen „research“ das Suchende, Fragende, ins Unbekannte Aufbrechende. Darum geht es ja im Kern, heute ebenso wie damals bei der Gründung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher im Jahr 1822.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

© Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung Lübeck

Der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt

Zur Person
Dietrich von Engelhardt kam 1941 in Göttingen zur Welt. Er studierte Philosophie, Geschichte und Slawistik in Tübingen, München und Heidelberg, wurde 1969 promoviert, war mehrere Jahre in der Kriminologie und Kriminaltherapie tätig und habilitierte sich 1976 in der Naturwissenschaftlich-Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Von 1983 bis 2007 war er Ordinarius für Geschichte der Medizin und Allgemeine Wissenschaftsgeschichte an der Universität Lübeck, von 2008 bis 2011 Kommissarischer Direktor des vergleichbaren Instituts der Technischen Universität München (TUM). Dietrich von Engelhardt übernahm viele weitere Aufgaben, unter anderem als Prorektor der Universität (1993 bis 1996), Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin (1998 bis 2002), Vorsitzender der Ethikkommission für medizinische Forschung und des Klinischen Ethikkomitees der Universität Lübeck (2000 bis 2007) sowie als Vizepräsident des Landeskomitees für Ethik in Südtirol (2001 bis 2010). 1997 initiierte und organisierte er in Lübeck ein Symposium aus Anlass des 175-jährigen Bestehens der GDNÄ.

Dietrich von Engelhardt wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa durch die Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina im Jahr 1995 und in andere nationale und internationale Wissenschaftsakademien. Er erhielt 2004 die Georg-Maurer-Medaille der TUM-Fakultät für Medizin und ebenfalls 2004 den Preis der Züricher Margrit Egnér-Stiftung. Im Jahr 2016 wurde er für seine Forschungen zur Geschichte der GDNÄ mit der Alexander-von-Humboldt-Medaille geehrt.

Zu den wissenschaftlichen Schwerpunkten Dietrich von Engelhardts zählen: Theorie der Medizin; medizinische Ethik; Medizin in der Literatur der Neuzeit; Botanik des 16. Jahrhunderts: Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Medizin in Idealismus und Romantik; Geschichte der Psychiatrie; naturwissenschaftlich-medizinische Reisen in der Neuzeit; europäische Wissenschaftsbeziehungen; Umgang des Kranken mit der Krankheit; Bibliotherapie; Biografien  und Pathografien  von Naturwissenschaftlern, Medizinern und Künstlern.

Weiterführende Links:
Bücher (Hg. Dietrich von Engelhardt)
>> Forschung und Fortschritt, Festschrift zum 175-jährigen Jubiläum der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, Stuttgart 1997 (Sammelband mit wegweisenden Reden von Lorenz Oken bis Hubert Markl; antiquarisch erhältlich)
>> Zwei Jahrhunderte Wissenschaft und Forschung in Deutschland, Entwicklungen – Perspektiven“, Stuttgart 1998 (Tagungsband zum 175-jährigen Bestehen der GDNÄ; antiquarisch erhältlich)
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© G. C. Wilder / Stadtmuseum Fembo-Haus, Nürnberg

Anlässlich der 23. Versammlung der „Herren Naturforscher und Ärzte“ im Jahr 1845 lud die Stadt Nürnberg zum Festmahl im Rathaussaal ein.

Tina Romeis – Faszinierend und wunderschön

„Faszinierend und wunderschön“

Sie liefern Sauerstoff und Nahrungsmittel und schaffen eine gesunde Umwelt: Pflanzen sind lebenswichtig und doch zunehmend bedroht. Wie sich ihre Widerstandskraft gegen Trockenheit und andere Stressfaktoren gezielt verbessern lässt, erforscht Professorin Tina Romeis am Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB) in Halle.

Frau Professorin Romeis, der Klimawandel setzt der Pflanzenwelt weltweit zu. Auch in unseren Breiten sind Bäume, Sträucher und viele andere Gewächse von den Dürren der letzten Jahre gezeichnet. Beschäftigt Sie das in Ihrer Forschung?
Ja, der Trockenstress ist für mich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen hier am Institut ein großes Thema. Als Grundlagenforscher wollen wir bis in die molekularen Details hinein verstehen, was bei anhaltendem Wassermangel in den Pflanzen geschieht. Mit diesem Wissen sollte es gelingen, ihre Widerstandskraft gezielt zu erhöhen.

Wie gehen Sie das Problem an?
Unser Institut ist spezialisiert auf kleine Moleküle. Wir konzentrieren uns auf bestimmte Stoffwechselprodukte, sogenannte Metaboliten, die entscheidend zur Resistenz einer Pflanze gegenüber Trockenheit beitragen. Solche Metaboliten bestimmen wir in Pflanzen, die unterschiedlich gut mit Wassermangel zurechtkommen. Bäume wie Buchen und Eichen weisen noch eine recht hohe Trockentoleranz auf, Nadelbäume haben große Probleme damit. Darüber hinaus identifizieren wir die kleinen Moleküle in Signalwegen, über die sich Informationen über Umweltbedingungen innerhalb einer Pflanze verbreiten. Über diese Wege mobilisiert die Pflanze auch ihre Abwehrkräfte, zum Beispiel bei Wassermangel.

Das deutsche Tiefsee-Forschungsschiff „Sonne" © Thomas Walter

© IPB

Im Foyer des Leibniz-Instituts für Pflanzenbiochemie (IPB) in Halle.

Wie können wir uns pflanzliche Abwehrkräfte vorstellen?
Wenn Pflanzen angegriffen werden, beispielsweise durch Bakterien oder Fraßinsekten, aktivieren sie Abwehrmechanismen und -stoffe, mit denen sie sich bei künftigen Attacken wehren können. Daran sind Kalzium-abhängige Proteinkinasen beteiligt, für die ich mich in meiner Forschung ganz besonders interessiere. Es handelt sich um Enzyme, die nicht nur wichtig für die Immunabwehr von Pflanzen sind, sie prägen auch die pflanzliche Stresstoleranz gegenüber Trockenheit, Kälte und Nährstoffmangel. Interessanterweise gibt es im menschlichen Gehirn ähnliche, durch Kalzium regulierte Proteinkinasen, die entscheidend für das Lernen und das Gedächtnis sind.

Können auch Pflanzen sich erinnern?
Ja, das kann man durchaus sagen. Natürlich haben Pflanzen kein Gehirn oder ein Nervensystem wie wir Menschen. Aber sie verfügen über eine Art molekulares Gedächtnis. Wie es genau funktioniert, welche Informationen Pflanzen kurz- oder langfristig speichern und welche Faktoren das Vergessen von Informationen regulieren, all das erforscht meine Arbeitsgruppe.

Was tun Sie mit Erkenntnissen, die für die Anwendung interessant sein könnten?
Wenn das der Fall ist, wenden wir uns an das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung im nahegelegenen Gatersleben. Der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen unseren Instituten klappt hervorragend und die Rollenverteilung ist einvernehmlich geregelt: Wir am IPB sind zuständig für die biochemische Grundlagenforschung, Gatersleben verfügt über  artenreiche Saatgutbanken, die sich hervorragend für Neuzüchtungen oder gezielte genetische Veränderungen eignen.

 Für die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung im Klimawandel sind solche Entwicklungen sehr wichtig. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Zwar betreiben wir keine Pflanzenzüchtung, liefern also nicht direkt anwendbare Lösungen. Doch die Fragen, die wir in unserer biochemischen Grundlagenforschung stellen, sind natürlich von globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel geleitet. Dass diese Forschungsfragen dringend beantwortet werden müssen, sieht man auch daran, dass die Wissenschaft in unserem Feld weltweit boomt. In Deutschland stehen wir aktuell noch recht gut da. Was die Zukunft angeht, bin ich jedoch etwas skeptisch. Viele junge Leute wollen nach dem Studium nicht mehr promovieren. Bei ihnen beobachte ich ein starkes Interesse für Naturschutz, Umweltmanagement und ökologische Bildung – die Grundlagenforschung ist nicht ihr Hauptanliegen.

War das der Grund, warum Sie vor drei Jahren von der Freien Universität Berlin an das Leibniz-Forschungsinstitut nach Halle wechselten?
Ich wollte mich auf die Forschung konzentrieren und dafür sind die Bedingungen am IPB ideal. Von der apparativen Ausstattung, die uns hier zur Verfügung steht, kann man an den meisten Unis nur träumen. Ein Beispiel ist unser Massenspektrometer, mit dem wir die Massen von Atomen und Molekülen in Pflanzen bestimmen, ein anderes das konfokale Mikroskop, das winzige pflanzliche Reaktionen sichtbar macht. Und mithilfe der sogenannten FRET-Mikroskopie können wir biochemische Prozesse in der Pflanze live beobachten.

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© IPB

Mit diesem Konfokalmikroskop untersuchen die Wissenschaftler um Professorin Romeis das Verhalten lebender Pflanzen unter verschiedenen Bedingungen wie zum Beispiel großer Trockenheit. Zu sehen ist immer dasselbe Blatt der zu Forschungszwecken häufig genutzten Ackerschmalwand Arabidopsis. Gezeigt werden einzelne Schließzellen (Stomata) an der Unterseite eines Blattes, die den Gasaustausch und den Wasserhaushalt in der Pflanze steuern. Das Mikroskop führt die biochemischen Prozesse vor Augen, die zum Öffnen der Zellen bei günstigen  Bedingungen und zum Schließen bei Trockenheit führen.  

Das klingt nach guten Voraussetzungen für Erfolgsgeschichten.
Die gibt es immer wieder, auch fächerübergreifend. Erst vor wenigen Monaten wurde ein spektakulärer Fund publiziert, zu dem die Forschung bei uns am Institut beigetragen hat. Es ging um den Auslöser einer mysteriösen neurodegenerativen Krankheit bei Weißkopfseeadlern, der nach jahrelanger gemeinsamer Forschung mit amerikanischen Wissenschaftlern identifiziert werden konnte. Seit den 1990er-Jahren waren an der Krankheit viele Vögel, Reptilien und Fische im Süden der USA gestorben. Ursache war ein Gift, das von Cyanobakterien gebildet wird, die auf bestimmten Wasserpflanzen in den betroffenen Gegenden gedeihen. Die Studie wurde als Titelgeschichte im Fachmagazin „Science“ veröffentlicht und trug der Pflanzenforschung in Halle großes Renommee ein. Meinen Kollegen am Institut ist jetzt gerade die chemische Totalsynthese dieses Gifts gelungen, es handelt sich um einen toxischen Metaboliten.

Auch deutsche Publikumsmedien berichteten über die Studie. Lag das am attraktiven Thema oder ist das Interesse der Öffentlichkeit an Wissenschaftsthemen generell groß?
Es hatte viel mit der besonderen Thematik zu tun. Generell beobachte ich eher eine zunehmende Wissenschaftsmüdigkeit und einen Vertrauensverlust. Die vielen Plagiatsaffären haben dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft doch sehr geschadet. Da haben wir einiges aufzuholen und gutzumachen.

Welche Rolle kann die GDNÄ dabei spielen? Immerhin ist der Austausch mit der Gesellschaft eines ihrer großen Anliegen.
Ich glaube, die GDNÄ kann hier viel bewirken. Sie ist eine neutrale Instanz und vertritt keine spezifischen Fachinteressen. Das ist eine gute Basis für einen vertrauensvollen Dialog mit der Öffentlichkeit.

In der GDNÄ vertreten Sie seit Kurzem das Fach Biologie. Was möchten Sie in dieser Funktion erreichen?
Pflanzen sind extrem wichtig für unser Leben, für die Energieversorgung und das gesamte Ökosystem und sie werden immer wichtiger. Außerdem sind Pflanzen wunderschön und faszinierend. Das würde ich gern stärker ins Bewusstsein rücken und auch der nächsten Generation vermitteln. Die Programme der GDNÄ für Schüler und Lehrer bieten dafür hervorragende Möglichkeiten.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

© IPB

Prof. Dr. Tina Romeis
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© IPB

Eine Forschungseinrichtung im Grünen.
Zur Person
Seit 2019 leitet Tina Romeis die Abteilung „Biochemie pflanzlicher Interaktionen“ am Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB) in Halle an der Saale. Gleichzeitig wurde die damals 54-Jährige als Professorin an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen.  Zuvor hatte Tina Romeis 15 Jahre lang den Lehrstuhl für Pflanzenbiochemie an der Freien Universität Berlin geleitet. Dem Ruf nach Berlin ging eine Forschungstätigkeit am Max-Planck-Institut für Pflanzenzüchtungsforschung in Köln voraus. Dort hatte sie sich dank des 2001 zuerkannten, hoch dotierten Sofia-Kovalevskaja-Preises der Alexander-von-Humboldt-Stiftung als unabhängige Gruppenleiterin etablieren können. Ihre Habilitation in Genetik und Molekularer Phytopathologie erfolgte am Institut für Genetik der Ludwig-Maximilians-Universtiät München. Weitere Meilensteine ihrer Laufbahn waren Forschungsaufenthalte in München und am John-Innes-Centre im britischen Norwich und davor die Promotion am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. In Tübingen, an der Eberhard-Karls-Universität, hatte Tina Romeis Biochemie, Organische Chemie und Pflanzenphysiologie studiert. Aufgewachsen ist die in Würzburg geborene Fränkin im Steigerwald.

Das Forschungsinteresse von Professorin Romeis richtet sich insbesondere auf Kalzium-abhängige Proteinkinasen. Diese Enzyme sind nicht nur wichtig für die Immunabwehr von Pflanzen, sie prägen auch deren Stresstoleranz gegenüber Trockenheit, Kälte und Nährstoffmangel. Die Biochemikerin will ihre Grundlagenforschung in Kooperation mit Forschungseinrichtungen in der Region nutzbar machen: sowohl für die Land- und Forstwirtschaft wie auch für das Verständnis ökologischer Zusammenhänge.

Weiterführende Links:

Thomas Elsässer – Schnappschüsse von zuckenden Molekülen

Schnappschüsse von zuckenden Molekülen

Mit ultrakurzen Lichtimpulsen macht der Berliner Experimentalphysiker Thomas Elsässer winzige Bewegungen der Materie sichtbar. Was er mit seinem Team erforscht, ist von großem praktischen Nutzen für die Entwicklung neuer Werkstoffe, für Medizin und Biologie – und für ein schnelles, stabiles Internet. 

Herr Professor Elsässer, Sie leiten das Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie.  Das klingt ziemlich kompliziert. Können Sie es einfach erklären?
Wir erzeugen ultrakurze und ultraintensive Lichtimpulse und untersuchen deren Wechselwirkung mit Materie. Auf diese Weise können wir extrem schnell ablaufende Prozesse in Atomen und Molekülen abbilden und genau untersuchen.

Sie betreiben also Speed Imaging in einer Welt, die dem menschlichen Auge normalerweise verborgen bleibt?
Ja, so kann man es ausdrücken. Tatsächlich lassen sich heute Elektronenbewegungen in Festkörpern, molekulare Bewegungen in Flüssigkeiten oder die Abläufe chemischer Reaktionen in Echtzeit verfolgen. Dabei wird zuerst der zu untersuchende Prozess durch einen ultrakurzen Lichtimpuls ausgelöst, um dann im nächsten Schritt mit einem zweiten Lichtimpuls den aktuellen Wert einer optischen Messgröße zu ermitteln, zum Beispiel die momentane Reflexion einer molekularen Probe. Durch wiederholte Messungen ergibt sich eine Abfolge von Schnappschüssen, die ähnlich wie ein Kinofilm einen Bewegungsablauf zeigen. Es geht aber nicht nur um das Beobachten und Abbilden: Mit maßgeschneiderten ultrakurzen Lichtimpulsen lassen sich Prozesse auch gezielt steuern, um etwa chemische Reaktionen zu optimieren.

Ultrakurze Impulse sind offenbar der Dreh- und Angelpunkt: Was ist damit genau gemeint?
Es geht um Lichtblitze von wenigen Femtosekunden Dauer. Eine Femtosekunde ist ein Milliardstel einer Millionstel Sekunde. Solche unvorstellbar kurzen Lichtimpulse, in denen für sehr kurze Zeit eine Leistung von mehreren Millionen Megawatt konzentriert ist, erzeugen wir in speziellen Lasern. Nur so gelingt es, ultrakurze Vorgänge in der Materie zu erforschen.

Das deutsche Tiefsee-Forschungsschiff „Sonne" © Thomas Walter

© Max-Born-Institut

Eine experimentelle Anordnung zur Erzeugung intensiver Femtosekundenimpulse im infraroten Bereich bei einer Wellenlänge von fünf Mikrometern. Am Max-Born-Institut wird das System zur Erzeugung ultrakurzer harter Röntgenimpulse eingesetzt.

Lassen sich die Erkenntnisse auch praktisch anwenden?
Ja, es gibt bereits eine Vielzahl von Anwendungen im technischen und medizinischen Bereich und es kommen laufend neue hinzu. Ein Beispiel ist das Internet, dessen Hauptstrang heute  aus Glasfaserkabeln besteht. Dort werden riesige Datenmengen mit Lichtimpulsen im Pikosekundenbereich – eine Pikosekunde ist ein Millionstel einer Millionstel Sekunde – übertragen. Ein anderes Beispiel kommt aus der Materialwissenschaft: Bearbeitet man Werkstoffe mit einem Femtosekundenlaser, dann lassen sich hochpräzise Bohrungen ohne Ausfransen der Ränder erzeugen. Damit hat man sehr gute Erfahrungen in der Produktion von Einspritzdüsen gemacht. Oder nehmen wir die Medizin: Hier trägt die Forschung auf meinem Gebiet zu immer genaueren Bildgebungsverfahren und passgenauen Lasertherapien bei, etwa für das Netzhautschweißen in der Augenheilkunde.

Was sind die großen Trends in Ihrem Feld?
Derzeit wird international massiv in Großmaschinen investiert, um mit ultrakurzen Röntgenimpulsen ultraschnelle Strukturänderungen in Materie zu erfassen. Die Anwendungsbereiche reichen von Physik, Chemie und Materialforschung bis hin zur Biologie. In Stanford, Hamburg, Rüschlikon und einigen asiatischen Ländern gibt es bereits solche Großmaschinen, andernorts sind weitere Maschinen im Aufbau. Schon jetzt ist klar dass die Bestimmung momentaner atomarer Strukturen zusammen mit Ergebnissen der Ultrakurzzeitspektroskopie die Dynamik von Materie bis ins kleinste Detail erfassen kann.

Wo liegen derzeit die Schwerpunkte an Ihrem Institut?
In meiner Arbeitsgruppe geht es aktuell vor allem um das Projekt BIOVIB, für das ich 2019 einen zweiten ERC-Grant erhalten habe, verbunden mit einer Fördersumme von 2,5 Millionen Euro. Mit BIOVIB versuchen wir, dynamische elektrische Wechselwirkungen in biologischen Makromolekülen aufzuklären. Im Fokus steht aktuell die Transfer-RNA, kurz: tRNA genannt, die in der Zelle wie ein Lesekopf  Information aus der Messenger-RNA (mRNA) ausliest und die Synthese von Proteinen aus Aminosäuren ermöglicht. Die Struktur der tRNA wird durch elektrische Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung stabilisiert, die wir im Detail verstehen möchten. Wenn wir hier die richtigen Ansatzpunkte finden, sind auch gezielte Veränderungen im Sinne eines Moleceular Engineering denkbar. Andere Gruppen am Institut beschäftigen sich zum Beispiel mit der Dynamik von Elektronen im Sub-Femtosekundenzeitbereich und ultraschnellen magnetischen Prozessen.

Das Max-Born-Institut ist heute eine vitale, renommierte Forschungseinrichtung. War das 1993, als Sie in den Berliner Südosten kamen, schon vorherzusehen?
Gehofft habe ich es natürlich, aber abgezeichnet hat es sich damals noch nicht. Der Forschungsstandort Adlershof war Anfang der 1990er-Jahre noch nicht wettbewerbsfähig und sah phasenweise aus wie eine Sandwüste mit ziemlich maroden Gebäuden. Unser Institut war aus Teilen des Zentralinstituts für Optik und Spektroskopie der Akademie der Wissenschaften der DDR hervorgegangen und verwandelte sich im Laufe der Jahre in eine international konkurrenzfähige Forschungseinrichtung. Wir haben auf unserem Weg viel Unterstützung bekommen, auch durch die hervorragende Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen in der Region. Unsere Grundfinanzierung von Bund- und Länderseite und hier maßgeblich durch das Land Berlin ist gut. Als Wissenschaftler habe ich alle Freiheiten. Ich kann mich wirklich nicht beschweren.

Also uneingeschränkt zufrieden?
Nicht ganz. Kritisch sehen wir das geplante neue Hochschulgesetz für Berlin, das dem Senat deutlich mehr Einfluss einräumt, zum Beispiel bei Berufungen von Professoren. Probleme bereitet uns generell die zunehmende Regelungsdichte in Forschung und Verwaltung: Das nimmt oft kafkaeske Züge an, verzögert unter anderem die Zuwendung von Forschungsgeldern und beschädigt damit unsere Wettbewerbsfähigkeit. Die Mittelknappheit an den Berliner Unis ist auch für die außeruniversitäre Forschung ein großes Problem, denn die Hochschulen sind sehr wichtige Partner für uns. In der Berliner Verwaltung herrscht leider an manchen Stellen eine ausgeprägte Misstrauenskultur, durchaus im Unterschied zu anderen Bundesländern. Der Wissenschaft tut das überhaupt nicht gut.

Sie engagieren sich weit über Ihr Institut hinaus für Wissenschaft und Forschung. Was treibt Sie an?
Es macht mir einfach Spaß, auch mal über den fachlichen Tellerrand hinauszuschauen und eigene Erfahrungen einzubringen. Zum Beispiel in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo ich derzeit an mehreren Projekten beteiligt bin. Wir setzen uns zum Beispiel mit Wissenschaftsfreiheit und Cancel Culture im akademischen Bereich auseinander, also mit dem Trend zum Ausschluss von Wissenschaftlern mit abweichenden Meinungen. Häufig halte ich auch Schulvorträge in Brandenburg und spreche mit den jungen Leuten über meine Forschung, das Leben als Wissenschaftler und ihre Zukunftsideen.

Sie sind seit vielen Jahren Mitglied der GDNÄ und engagieren sich als Vertreter des Fachs Physik. Gibt es etwas, das Sie in dieser Funktion erreichen möchten?
Es wäre wunderbar, wenn wir die Öffentlichkeit und vor allem junge Leute noch stärker einbeziehen könnte – dazu würde ich sehr gern beitragen. Dass die GDNÄ in der Wissenschaft ein hervorragendes Image hat, konnte ich erleben, als wir Fachkollegen zu Vorträgen bei der 200-Jahr-Feier in Leipzig eingeladen haben: Es gab nur Zusagen. Eine gute Idee, um zwischen den Versammlungen den Zusammenhalt der Mitglieder zu stärken, sind Regionaltreffen. Und die jetzt schon hervorragenden Programme für Schülerinnen und Schüler können wir sicher noch weiter ausbauen. Zum Beispiel mit kostenfreien Zoom-Vorträgen für junge Leute –  ich würde mich daran sofort beteiligen. Für Erwachsene könnten wir Infoflyer zu relevanten, aktuellen Themen ins Netz stellen, etwa zu Fragen des Stromtransports von den Küsten nach Süden, zum Klimawandel oder zu Themen rund ums Internet. Das Fachwissen dafür hat die GDNÄ in hohem Maße.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

© Max-Born-Institut / Ralf Günther

Prof. Dr. Thomas Elsässer

Zur Person
Prof. Dr. Thomas Elsässer ist Direktor am Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie in Berlin-Adlershof und Professor für Experimentalphysik an der Humboldt-Universität. Nach Berlin kam er im Jahr 1993, als Adlershof noch „wie eine Sandwüste mit DDR-Gebäuden aussah“, berichtet der gebürtige Tübinger im Interview. Er hatte sich bewusst für die Pionierarbeit im Berliner Südosten entschieden und Rufe an die Universitäten Zürich und Stuttgart abgelehnt.

Im Jahr 1991 hatte Thomas Elsässer sich habilitiert – an der Technischen Universität München, wo er nach dem Physik-Diplom mit einer Arbeit im Bereich der Pikosekunden-Spektroskopie promoviert und einige Jahre geforscht hatte. 1990 verbrachte er als Postdoc an den berühmten Bell-Labs in New Jersey.

Der heute 63-jährige Wissenschaftler hat viele Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter zwei der begehrten Advanced Grants des European Research Council (ERC) in den Jahren 2009 und 2019. Diese Fördergelder in Millionenhöhe werden an Spitzenforscher in Europa für bahnbrechende Hochrisiko-Projekte vergeben. 2013 lehnte Thomas Elsässer ein Angebot aus Stanford ab.

Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie. In der GDNÄ engagiert er sich seit 2014 als Fachvertreter Physik.

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© Max-Born-Institut

Eine feste Größe auf dem Wissenschaftscampus Adlershof im Berliner Südosten: Das Max-Born-Institut, das mit seinen Büros, Laboren, Seminarräumen und einem Hörsaal in mehreren Gebäuden untergebracht ist.

Das Institut

Das Max Born Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie (MBI) ist eine wissenschaftlich selbständige Forschungseinrichtung. Sie ist Teil des Forschungsverbunds Berlin e.V. und Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird institutionell je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern, insbesondere von Berlin, gefördert.

Das MBI pflegt enge wissenschaftliche Verbindungen zu den Berliner Universitäten. Seine Direktoren wurden mit je einer der Berliner Universitäten gemeinsam berufen. Marc Vrakking ist Professor an der FU Berlin, Stefan Eisebitt an der TU Berlin und Thomas Elsässer an der HU Berlin.

Das Institut wurde Ende 1991 gegründet und hat knapp 200 Mitarbeiter, von denen fast die Hälfte als Wissenschaftler tätig sind. Das Jahresbudget beläuft sich auf etwa 23 Millionen Euro.

Max Born, der Namensgeber des Instituts, zählt zu den bedeutendsten Wegbereitern der modernen Physik. Born erhielt (zusammen mit Walther Bothe) 1954 den Nobelpreis für Physik für seine Grundlagenforschung in der Quantenmechanik.

Angelika Brandt: „Fünf Wochen ohne Internet sind gar nicht so übel“

„Fünf Wochen ohne Internet sind gar nicht so übel“

In der Tiefsee ist es finster und bitterkalt – und doch ist sie voller Leben. Die Meeresbiologin Angelika Brandt erforscht diese geheimnisvolle Welt und macht immer wieder faszinierende Entdeckungen.

Frau Professorin Brandt, Ihre Forschung lebt von Reisen in ferne Meeresregionen. Wo überall waren Sie schon auf Expedition?
Viele meiner Forschungsreisen gingen in die Polarregionen. In der Antarktis war ich zehn Mal und im Europäischen Nordmeer und im Nordwestpazifik acht Mal – immer für mehrere Wochen.

Sind solche Forschungsreisen auch in Corona-Zeiten möglich?
Unmöglich sind sie nicht. Ein aktuelles Beispiel: Nach langem Hin und Her mit Genehmigungen, Logistik, Visa und den ganzen Gesundheitsvorkehrungen bekamen wir vor ein paar Wochen endlich grünes Licht für eine deutsch-russische Expedition ins Beringmeer. Der Antrag läuft immerhin schon seit 2016. Jetzt sollte die Expedition am 4. Juni in Petropawlowsk Kamtschatski auf der Halbinsel Kamtschatka starten und bis 12. Juli gehen. Kurzfristig gibt es nun technische Probleme. Es müsste schon ein Wunder passieren, damit wir doch noch auslaufen können. Forschungsexpeditionen sind ungeheuer komplexe Unternehmungen, da kann immer etwas dazwischenkommen – wobei die Störanfälligkeit in Pandemiezeiten natürlich zunimmt.

Das deutsche Tiefsee-Forschungsschiff „Sonne" © Thomas Walter

© Thomas Walter

Das deutsche Tiefsee-Forschungsschiff „Sonne“. Es hat modernste Meerestechnik an Bord, darunter autonome und ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, Landefähren, geschleppte Geräte sowie Greifersysteme.

Und wenn es bei der Absage bleibt?
Dann wird die deutsch-russische Forschungsfahrt auf derzeit noch ungewisse Zeit verschoben. Uns bleibt dann erstmal nur die Hoffnung auf die übernächste Expedition. Sie soll 2022 mit dem deutschen Tiefsee-Forschungsschiff Sonne unter meiner Fahrtleitung in den nordpazifischen Aleutengraben führen.

Welche Bedeutung haben die Expeditionen für Ihre Arbeit?
Sie liefern die Grundlage für unsere Forschungsarbeit. Von einer mehrwöchigen Expedition bringen wir in der Regel sehr umfangreiches Tiermaterial und erste Daten mit nach Hause. In unseren Laboren unterziehen wir die Proben dann aufwändigen morphologischen, anatomischen und genetischen Analysen. Auf diese Weise sind schon viele Doktorarbeiten entstanden und Publikationen mit vielbeachteten Entdeckungen und Erkenntnissen.

Haben Sie ein Beispiel für uns?
Im Nordwestpazifik konnten wir Hunderte bisher unbekannte Arten in der Tiefsee identifizieren. In 8700 Meter Tiefe entdeckten wir zum Beispiel einen Muschelkrebs, der bis dahin nur aus Tiefen von rund 4000 Metern bekannt war. Der Fund war auch deshalb so überraschend, weil man angenommen hatte, dass diese Tiere unter dem enormen Wasserdruck im Hadal – so nennen wir die Sphäre ab 6000 Meter unter dem Meeresspiegel – nicht existieren können. Ein Irrtum, wie unsere Expeditionen zeigen.

Wie sieht die Umwelt für Lebewesen in diesen Tiefen insgesamt aus?
Unterhalb von 1000 Metern ist es ziemlich finster, die Temperatur liegt in der Regel bei ein bis zwei Grad Celsius, auf jedem Quadratzentimeter liegt ein Druck von mehr als einer Tonne und das Nahrungsangebot ist karg. Und doch finden sich in der Tiefsee reiche Lebensgemeinschaften. Meist steigen die Artenzahlen bis in Tiefen von 4000 Metern an, in Tiefseegräben ab 6000 Meter nehmen sie wieder ab. Die in großen Tiefen vertretenen Arten sind oft riesengroß. Diesen Trend zum Gigantismus mit zunehmender Tiefe konnten wir sowohl im nordwestpazifischen Kurilen-Kamtschatka-Graben wie auch im Südpolarmeer beobachten.

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© Nils Brenke

Tiefseegarnele im Nordwestpazifik in 5378 Meter Tiefe.

Muschelkrebse erwähnten Sie bereits: Welche anderen Arten gibt es dort unten?
Borstenwürmer, Hakenrüssler, Furchenfüßer, Seegurken – und immer wieder Meeresasseln. Sie sind meine Lieblingsart und sie finden sich sogar noch in den tiefsten Ozeangräben, also mehr als zehn Kilometer unter dem Meeresspiegel. Einer unserer besonders interessanten Funde im Nordwestpazifik war ein Urmollusk, ein lebendes Fossil. Eine erste Bestandsaufnahme der biologischen Vielfalt im Nordwestpazifik habe ich im Jahr 2020 zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus rund vierzig Ländern veröffentlicht. In unserem Online-Tiefsee-Atlas beschreiben wir mehr als 500 Tiefsee-Arten, die wir bei vier Expeditionen in dieser Region gefunden haben.

Was macht den Nordwestpazifik so interessant für Ihre Forschung?
Er ist einer der fruchtbarsten, nährstoffreichsten und artenreichsten Ozeane der Welt. Es gibt dort Seebecken unterschiedlicher Tiefe und miteinander verbundene oder isolierte Lebensräume wie das Japanische Meer und das Ochotskische Meer. Außerdem existieren für diese Regionen hervorragende Vergleichsdaten, die wir elf russischen Expeditionen mit dem Forschungsschiff Witjas zwischen 1950 und 1977 verdanken. Vor diesem Hintergrund können wir Veränderungen der Biodiversität im Verlauf von Jahrzehnten erkennen und Zusammenhänge erforschen: etwa mit dem Klimawandel oder bestimmten menschlichen Aktivitäten.

Welche Veränderungen beobachten Sie und wie sind sie erklären?
Unsere Erkenntnisse über die Fauna des Nordwestpazifiks haben wir kürzlich zusammengetragen und 2020 in einem Fachjournal veröffentlicht. Sie bestätigen, was die Forschung seit Jahren zeigt: In den Ozeanen führt vor allem der Klimawandel zu großen Umbrüchen: Das Wasser wird wärmer, Eisschelfe schmelzen, der Meeresspiegel steigt und Meeresströmungen verändern sich. All das hat Konsequenzen für das Nahrungsgefüge und die Lebenswelt im Ozean. Rasante Veränderungen sehen wir im Nordpolarmeer. Dort wandern gerade viele Arten aus südlicheren Regionen ein, zum Beispiel Krebse und Weichtiere. Umgekehrt migrieren zahlreiche Arten aus dem arktischen Ozean südwärts. Auch im Südpolarmeer hat der Umbruch mit aller Macht begonnen. Durch das Abschmelzen gewaltiger Eisschelfe wird dort Lebensraum für neue Arten frei. Für andere Arten hingegen wird die Nahrung knapp. Das hat mit den Algen zu tun, die unter dem Eis wachsen und von denen sich zum Beispiel der Krill ernährt. Das sind winzige, in riesigen Mengen vorkommende Krebse, die wiederum Walen, Robben, Pinguinen und vielen anderen Arten als Hauptnahrung dienen. Weniger Meereis bedeutet also weniger Algen, weniger Krill und weniger Großfauna. Die antarktische Tierwelt wird schon bald eine andere sein, davon sind wir überzeugt.

Und was passiert dann?
Das ist eine der großen Forschungsfragen, um die es bei unseren Expeditionen geht.

Wie kommen Sie an die Proben, die Sie für Ihre Beobachtungen benötigen?
Mit Schleppnetzen, etwa mit dem sogenannten Agassiztrawl, oder mit Epibenthosschlitten. Das sind Sammelgeräte, die über den Grund gezogen werden, um die Organismen im Tiefseeschlamm aufzunehmen. Häufig setzen wir auch Greifersysteme ein, die Stücke aus dem Meeresboden ausstanzen. Mithilfe eines großen Kastengreifers können wir zum Beispiel einen Viertelquadratmeter Sediment vom Ozeanboden mit den darin befindlichen Lebewesen an Deck holen. Übrigens ist auch in den entlegensten Ozeanregionen immer eine Menge Plastikmüll dabei: Treibnetze, Säcke, Schuhsohlen, Pillendosen und viel Mikroplastik, das sich selbst in Tiefen von mehr als 9000 Metern noch ansammelt.

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© Thomas Walter

Bereit für die wissenschaftliche Untersuchung: Sediment und Organismen vom Meeresgrund.

Wie können wir uns den Alltag an Bord eines Forschungsschiffs vorstellen?
(Angelika Brandt lacht): Man arbeitet ständig und fällt abends bleischwer ins Bett. Meine Energie reicht dann höchstens noch für ein paar Seiten im aktuellen Lieblingskrimi. Während eine Schicht schläft, ist die andere an Deck und nimmt Proben – das geht rund um die Uhr so und ist ganz schön anstrengend. Meistens haben wir keine oder nur eine sehr schlechte Internet-Verbindung. Folglich gibt es auch keine Videokonferenzen und Ähnliches – für ein paar Wochen ist das gar nicht so übel. Die Abgeschiedenheit, die konzentrierte Forschung tun mir persönlich immer gut. Zusammen mit der Crew, meistens sind wir so um die siebzig Personen, sorge ich dafür, dass Proben aus dem Meer entnommen, sortiert, konserviert und für spätere Analysen sorgfältig vorbereitet werden. Zurück im Hafen wird das Material dann in Kühlcontainer gepackt und in die heimischen Labore gebracht.

Wie klappt das Miteinander internationaler Besatzungen auf engem Raum?
Jeder hat eigene Forschungsfragen, aber alle ziehen an einem Strang und verfolgen ein gemeinsames übergeordnetes Ziel. Da geht es zum Beispiel um Veränderungen in der Tierwelt einer Meeresregion vor dem Hintergrund des globalen Wandels. Das kann man an unterschiedlichen Tiergruppen und mit verschiedensten Methoden erforschen. Idealerweise sind Experten für möglichst viele, vor allem aber für die häufigsten Organismengruppen wie etwa Fadenwürmer, Krebse, Weichtiere und Stachelhäuter an Bord. Wir versuchen immer, die Besten aus aller Welt zu rekrutieren. An Bord verständigen wir uns untereinander auf Englisch.

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© Thomas Walter

Bei Tiefsee-Expeditionen wird im Schichtbetrieb gearbeitet – jedes Wochenende und auch nachts.

Die UN-Dekade der Ozeanforschung 2021-2030 hat gerade begonnen. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?
Dass wir die Ökosystemfunktionen der biologischen Vielfalt der Meere besser verstehen lernen, auch in ihrer Bedeutung für den Menschen.  Nur so können wir die Gefahren für die marine Biodiversität abwenden. Ein großes Risiko sehe ich im Tiefseebergbau, der sich vermutlich kaum noch verhindern lässt. Dabei werden mit dem Sediment, in dem wertvolle Rohstoffe lagern, großflächig auch viele Arten entnommen und Lebensgemeinschaften zerstört. Es wäre besser, vieles, was derzeit erwogen wird, gar nicht erst zuzulassen. Wenn es doch stattfindet, ist ein sehr sorgfältiges biologisches Monitoring unverzichtbar. 

Sie sind seit rund dreißig Jahren in der GDNÄ. Was bedeutet sie Ihnen?
Ich war schon als Doktorandin fasziniert von der großartigen Tradition der GDNÄ und ihrer wissenschaftlichen Diversität. Besonders engagiert habe ich mich bisher nicht, aber das ändert sich gerade. Als Gruppenvorsitzende Biologie, und hier speziell als Vertreterin der Meeresforschung, werde ich die Jubiläumstagung 2022 mitgestalten. 

Was ist Ihnen dabei wichtig?
Anspruchsvolle, aktuelle, gut verständliche Vorträge und lebhafte Diskussionen. Und ein spannendes Programm für Schülerinnen und Schüler. Ich finde es toll, dass die GDNÄ so breit aufgestellt ist, so viel für junge Leute tut und überhaupt nicht elitär ist.

Zum Schluss bitte noch ein Blick in die Glaskugel: Wie sehen Sie die Zukunft der GDNÄ?
In meinem Forschungsgebiet denken wir in großen Zeiträumen. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Breite und der thematischen Aktualität würde ich sagen: Die GDNÄ wird es auch in 500 Jahren noch geben!

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

© Privat

Die Meeresbiologin Angelika Brandt.

Zur Person
Die Meeresbiologin Prof. Dr. Angelika Brandt leitet die Abteilung Marine Zoologie am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Makrofauna der Tiefsee und der Polarregionen. Die 1961 in Minden geborene Wissenschaftlerin kam über ein Studium der Biologie und Pädagogik zur Meeresforschung. 1991 promovierte sie an der Universität Kiel mit einer Arbeit über die Besiedlungsgeschichte des antarktischen Schelfes und wurde 1995 auf eine Professur für spezielle Zoologie an der Universität Hamburg berufen. Von 2004 bis 2009 war sie Direktorin des Zoologischen Museums der Universität Hamburg. Im Jahr 2017 wechselte sie an das Senckenberg-Museum in Frankfurt am Main. Dort hat sie gleichzeitig eine Professur für Marine Zoologie an der Goethe-Universität inne.

Angelika Brandt organisierte und leitete zahlreiche Expeditionen mit Forschungsschiffen. Über ihre Entdeckungen und Erkenntnisse zur Tiefseebiologie berichtete sie in renommierten Fachzeitschriften. Eine Nature-Veröffentlichung über die Biodiversität im Südpolarmeer wurde vom Time Magazine als eine der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen des Jahres 2007 ausgezeichnet. Brandt erhielt den Preis der National Geographic Society als „Adventurer of the Year 2007“ und die SCAR-Medaille für hervorragende Leistungen in den Polarwissenschaften.

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© Thomas Walter

Ein Epibenthosschlitten wird an Bord gehievt. Das Sammelgerät war über den Meeresboden gezogen worden und bringt nun, zusammen mit einer Menge Tiefseeschlamm, Organismen für wissenschaftliche Untersuchungen an Deck.

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© Senckenberg

Buchcover „Tiefsee – Vielfalt in der Dunkelheit“.

Weiterführende Links:

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© Thomas Walter

Autorität ohne Uniform: Expeditionsleiterin Angelika Brandt. 

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© Torben Riehl

Die räuberische Assel Glyptonotus antarcticus wird bis zu 17 Zentimeter groß.

Wilhelm Füßl: „Herr Geheimrat pflegt wieder nicht zu kommen“

„Herr Geheimrat pflegt wieder nicht zu kommen“

Er betreute das Erbe der GDNÄ drei Jahrzehnte lang, jetzt geht er in Rente: Archivleiter Wilhelm Füßl über kostbare Dokumente, Tücken des Urheberrechts und sein langes Ringen um die Rückgabe historischer Originale.

Herr Dr. Füßl, das Deutsche Museum betreut zahlreiche Archive von wissenschaftlichen Institutionen, darunter auch das Archiv der GDNÄ. Welchen Stellenwert hat es?
Es ist von großer nationaler Bedeutung. Die GDNÄ ist ja nicht nur die älteste interdisziplinäre wissenschaftliche Gesellschaft Deutschlands, sie ist auch die Mutter vieler Fachgesellschaften wie etwa der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Eine weitere Besonderheit: Viele Archive von Wissenschaftsinstitutionen wurden im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört, von der GDNÄ jedoch blieben wenigstens einige historische Bestände erhalten.

Was sind die ältesten Dokumente?
Das sind die Berichte und Verhandlungen der GDNÄ-Versammlungen. Allerdings existieren manche nur als Kopie in unserem Archiv.

Haben Sie darin ein Lieblingsstück?
Besonders interessant finde ich zum Beispiel das Kontobuch aus dem Jahr 1911, demzufolge ein Archivar mit mageren 72 Reichsmark entlohnt wurde; heute würde das einer Kaufkraft von knapp 300 Euro entsprechen. Was ich mir auch gern anschaue, ist das Tagebuch der 15-jährigen Ulrike Schwartzkopff, die ihren Vater 1964 zur Versammlung in Weimar begleitete und ihre Eindrücke und Gedanken auf sehr lebendige, differenzierte und angenehme Weise festhielt. Oder ein Mikrofilm zur Organisation der Berliner Versammlung, wo sich auf einem Brief von 1828 eine Randnotiz Alexander von Humboldts findet: „Herr Geheimrat pflegt wieder nicht zu kommen“. Gemeint war Goethe.

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Tagebuch der 15-jährigen Schülerin Ulrike Schwartzkopff von der Versammlung der 103. Versammlung der GDNÄ in Weimar 1964.

Wie können wir uns das GDNÄ-Archiv insgesamt vorstellen?
Es handelt sich vor allem um Tagungsbände mit Berichten von Versammlungen, um Vortragsmanuskripte, Geschäftsberichte des Vorstands, Akten der Geschäftsstelle und um einige Hundert Fotografien. Das Archivgut stammt zum überwiegenden Teil aus der Zeit nach 1945, wobei die Dichte ab 1960 stark zunimmt. Ältere Bestände wurden bei Kriegsende von sowjetischen Truppen beschlagnahmt und in Richtung Moskau abtransportiert. Sie sind bis heute verschollen. Die noch erhaltenen Alt-Akten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert waren im Privatbesitz von Vorstandsmitgliedern oder wurden von uns akquiriert. Ein Großteil dieser Dokumente stammt aus den Jahren 1893 bis 1921.

Wo findet man das Archiv im Deutschen Museum?
Es ist im obersten Stockwerk des Bibliotheksgebäudes untergebracht. Das GDNÄ-Archiv umfasst inzwischen stattliche 23 Regalmeter und ist damit eines unserer größten Institutionenarchive. Der Lesesaal liegt nur wenige Meter von den Magazinen entfernt, und bestellte Dokumente werden schnell herbeigeschafft. So lohnt sich der Weg auch für eilige Besucher.

Wie groß ist das Interesse am GDNÄ-Archiv?
In den letzten zwanzig Jahren wurden mehr als 500 Akten ausgeliehen. Das ist eine beachtliche Zahl, auch im Vergleich zur Nutzung ähnlicher Archive im Deutschen Museum.

Wissen Sie Näheres über die Nutzer?
Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Wissenschaftler darunter sind. Aber das ist beileibe keine Voraussetzung. Alle Interessierten sind willkommen und können die Bestände kostenfrei lesen oder mit ihrer Digitalkamera für private Zwecke ablichten.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Mathematiker im Gruppenbild anlässlich der Versammlung der GDNÄ im Jahr 1890.

Das klingt etwas umständlich. Sind die Unterlagen nicht auch online verfügbar?
Dahin würden wir gern kommen, aber dem steht vor allem das Urheberrecht entgegen. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Urhebers – eines Vortragenden bei einer GDNÄ-Versammlung beispielsweise oder seiner Nachfahren –, darf das Werk erst siebzig Jahre nach seinem Tod frei genutzt werden. Für uns heißt das: Sofern keine Einverständniserklärung vorliegt, und das ist bei älteren Dokumenten selten der Fall, dürfen wir Vorträge, Briefe oder Berichte nur dann veröffentlichen, wenn sie aus der Zeit vor 1885 stammen. In die Zukunft gedacht könnte das für einen Vortrag, den eine 40-jährige Wissenschaftlerin bei der Jubiläumstagung 2022 in Leipzig hält, Folgendes bedeuten: Wird die Forscherin 90 Jahre alt, darf ihre schöne Rede frühestens im Jahr 2142 ohne Auflagen verbreitet werden. Das ist natürlich ein Witz.

Gibt es da eine pragmatische Lösung?
Bei neueren Dokumenten kaum. Ältere Publikationen könnte man über die Online-Dienste anderer Bibliotheken nutzen. Sobald nämlich ein Dokument im Internet steht, darf man sich darauf beziehen. Denkbar wäre es also, eine Liste mit Links zu solchen Quellen ins Netz zu stellen – und genau das wird derzeit erwogen.

Ihre Arbeit geht also deutlich über das schnelle Herbeischaffen von Unterlagen hinaus. Was gehört alles dazu?
Oh, da kommt einiges zusammen. Nehmen wir als Beispiel das GDNÄ-Archiv. Es kam 1989 hier an, also drei Jahre vor meinem Dienstantritt, und umfasste damals 13 Regalmeter. Im Jahr 2001 kamen weitere zehn Regalmeter dazu. So ein Bestand muss erst einmal fachlich geordnet und systematisch mit anderen Beständen vernetzt werden. Ein Ergebnis sind sogenannte Findbücher mit einem umfangreichen Inhaltsverzeichnis und vielen Schlagwörtern, die zu potenziell relevanten Informationen im gesamten Archivgut führen. Dann gibt es in vielen anderen Beständen unseres Archivs Material zur GNDÄ. Wer etwa über den Physiker Walther Gerlach forscht und dessen Nachlass durchforstet, erhält Hinweise auf Vorträge des GDNÄ-Mitglieds Gerlach in den 1950er-Jahren – nicht nur per Findbuch, sondern auch im Gespräch mit uns. Darüber hinaus pflegen wir den Kontakt zu wissenschaftshistorischen Instituten in ganz Deutschland und regen Forschungsarbeiten zu unseren Beständen an. Auf diese Weise ist beispielsweise eine Dissertation über das Wirken der GDNÄ zwischen 1822 und 1913 an der Universität Würzburg entstanden. Und, ganz wichtig: Wir durchstöbern regelmäßig wissenschaftliche Antiquariate und Auktionskataloge, um Lücken in unserem Bestand schließen zu können.

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Das verpackte GDNÄ-Archiv vor dem Abtransport in die Sowjetunion (um 1945).

Wie weit sind Sie damit beim GDNÄ-Archiv gekommen?
Manches ließ sich nachkaufen, aber den großen Verlust historischer Akten konnten wir nicht ausgleichen. Wir wissen, dass das GDNÄ-Archiv bis kurz vor Kriegsende am angestammten Platz im Leipziger Karl-Sudhoff-Institut war und dann zum Schutz ins nahegelegene Schloss Mutzschen ausgelagert wurde. Das nützte aber nichts: 1945 konfiszierten die Sowjets insgesamt 53 Kisten und eine Rolle mit den Archivnummern 34 bis 86 und brachten sie außer Landes. Ich bin seit 1992 an der Sache dran und habe über politische, akademische und persönliche Kanäle alles Mögliche versucht. Die Hoffnung war, wenigstens Mikrofilme von den GDNÄ-Beständen zu bekommen. Zunächst kam keine Reaktion. Was man denn wolle, hieß es später listig aus Moskau, man habe das Archiv der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde doch zurückgegeben. So ging das jahrzehntelang. Ich bin mir sicher, dass das Archiv der GDNÄ nicht zerstört wurde – es lagert wahrscheinlich irgendwo in einem russischen Museum. Wir müssen wohl auf politisches Tauwetter warten, um in der Sache voranzukommen.

Enthält das verschollene Archiv auch Dokumente aus der NS-Zeit?
Davon gehe ich aus. Uns liegt jedenfalls kein einziges Originaldokument aus diesen Jahren vor.

Sie erwähnten die Versammlung 1964 in Weimar – die erste und einzige GDNÄ-Veranstaltung in der DDR. Wissen Sie darüber Näheres?
Normalerweise nehmen wir keine Massenakten in unser Archiv auf, also zum Beispiel Geschäftskorrespondenzen mit Mitgliedern oder Teilnehmerverzeichnisse von Versammlungen. Für die DDR-Zeit haben wir bei der GDNÄ eine Ausnahme gemacht.  Wir wissen, dass die Tagungsbände über die Leopoldina in Ostdeutschland verteilt wurden und bis zur Wende sehr begehrt waren, auch wenn 1949 viele Ost-Mitglieder aus der GDNÄ ausgetreten waren. Das alles aufzuarbeiten, wäre ein hochinteressanter Beitrag zur Forschung.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Mitgliedskarte der GDNÄ für den bedeutenden Chemiker und Industriellen Carl Duisberg.

Sie haben demnächst mehr Zeit…
Das stimmt. Ende Mai gehe ich in den Ruhestand und übergebe die Geschäfte an meinen bisherigen Stellvertreter, den Historiker Dr. Matthias Röschner. Aber die Wissenschaftsgeschichte der DDR ist nicht mein Metier, da sind andere berufen. Ich bleibe meinen Themen treu und habe schon ein paar Buchprojekte im Sinn.

Zum Beispiel?
Eine Biografie des Ingenieurs Arthur Schönberg. Er war der erste Mitarbeiter des Gründers des Deutschen Museums Oskar von Miller. Über ihn habe ich 2005 eine Biografie veröffentlicht. An Arthur Schönberg, der 1943 im KZ Theresienstadt ums Leben kam, erinnert heute eine Ehrentafel im Deutschen Museum. 

Steht auf Ihrem Plan auch ein Besuch der GDNÄ-Versammlung 2022 in Leipzig?
Seit 1992 war ich bei den meisten Versammlungen dabei und habe sehr spannende Vorträge gehört. Einer ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, es ging um die Ausdehnung des Universums. Was ich auch genossen habe, waren die Begegnungen mit großartigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Also, ja, ich denke, ich werde in Leipzig dabei sein.

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Schlechte Bezahlung im Jahr 1912: Zwei Archivare verdienen 71,85 Mark.

Dr. Wilhelm Füßl
Dr. Wilhelm Füßl

Zur Person

Dr. Wilhelm Füßl kam 1955 in der Oberpfalz zur Welt. Er studierte Geschichte, Germanistik und Sozialkunde an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wurde dort 1986 mit einer Arbeit über den Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl promoviert. Nach Tätigkeiten im In- und Ausland wechselte er 1991 an das Deutsche Museum in München. 1992 übernahm er die Leitung des Archivs. In dieser Funktion ist Wilhelm Füßl bis zum Eintritt in den Ruhestand im Mai 2021 kooptiertes Vorstandsmitglied der GDNÄ – ein Amt, das Dr. Matthias Röschner als neuer Archivleiter übernimmt.

Das Forschungsinteresse Dr. Füßls gilt der Geschichte technischer Sammlungen und den Wechselwirkungen zwischen Biografien und Wissenschafts- bzw. Technikgeschichte. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die Bücher „Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen“ (2003) und, im Jahr 2005 erschienen, „Oskar von Miller (1855–1934). Eine Biographie“. Einige Bücher wurden mit Preisen ausgezeichnet. Wilhelm Füßl konzipierte mehrere Ausstellungen, darunter eine Schau zur Geschichte des Deutschen Museums, die dauerhaft gezeigt wird.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Cover der Festschrift anlässlich der Versammlung in München 1899.

Das Archiv des Deutschen Museums

Das Archiv des Deutschen Museums zählt zu den weltweit führenden Spezialarchiven zur Geschichte der Naturwissenschaft und Technik. Auf 4,7 Regalkilometern im Bibliotheksgebäude auf der Münchener Museumsinsel werden Nachlässe bedeutender Wissenschaftler und Forscher, Handschriften und Urkunden, Pläne und technische Zeichnungen, umfangreiche Archive von Firmen und wissenschaftlichen Institutionen sowie mehr als eine Million Fotografien verwahrt und für Recherchen aufbereitet. Das Archiv steht allen offen, die sich für Technik- und Wissenschaftsgeschichte interessieren. Die Benutzung ist kostenfrei. 

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Blick in einen Magazinraum des Archivs des Deutschen Museums.

Weiterführende Links:

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Bereits im Jahr 1900 engagierte sich die GDNÄ für die schulische Jugend. Hier ein Dokument zum Thema „Unterrichtsreform“.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Aufruf zur Sammlung von historischen Unterlagen zur GDNÄ, ca. 1921.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Bürgerrechtsurkunde für den Gründer der GDNÄ, Lorenz Oken, aus dem Jahr 1835.

Wolfgang Lubitz: Wissenschaftler verändern die Welt

„Wissenschaftler verändern die Welt“

Eine nachhaltige Energieversorgung für die Menschheit – diesem visionären Ziel dient die Forschung des Max-Planck-Wissenschaftlers Wolfgang Lubitz. Auch für die GDNÄ hat er große Pläne.

Herr Professor Lubitz, Sie sind Direktor emeritus am Mülheimer Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion. Wie können wir uns Ihren Alltag derzeit vorstellen?
Ich bin noch oft im Institut, arbeite derzeit aber auch viel von zu Hause aus. Im Großen und Ganzen geht es darum, meine Forschungsprojekte allmählich abzuschließen. Ich bin jetzt seit fast vier Jahren emeritiert und will mehr Freiraum für anderes schaffen. Aktuell erledige ich die letzten Korrekturen an einem Buchkapitel.

Um welches Thema geht es?
Das Buch behandelt die chemische Energiespeicherung und ich beschreibe in einem Kapitel, wie in der Natur Sonnenenergie durch die Photosynthese umgewandelt und gespeichert wird.

Warum ist dieser Prozess so interessant für Sie?
Er ist das große Vorbild für eine nachhaltige Energiespeicherung – auch wenn von der einfallenden, reichlich vorhandenen Sonnenenergie viel verloren geht. An dieser Stelle möchte ich ein wenig ausholen, um die Zusammenhänge zu verdeutlichen: Wir verdanken der Photosynthese unsere gesamte Nahrung, alle nachwachsenden Rohstoffe und fossilen Brennstoffe auf der Erde. Ein zentraler Schritt in der Photosynthese ist die lichtinduzierte Spaltung des Wassers, wobei Sauerstoff als Abfallprodukt entsteht. Dieser hat zur Ausbildung unserer sauerstoffreichen Erdatmosphäre und auch der uns schützenden Ozonschicht in der Stratosphäre geführt und damit die Voraussetzung zur Entstehung höheren Lebens auf unserem Planeten geschaffen. Durch die Photosynthese werden enorme Mengen von Kohlendioxid aus der Luft aufgenommen und in Kohlenhydrate umgewandelt, in denen letztlich die Sonnenenergie gespeichert ist. Speicherung in chemischen Verbindungen – in Brennstoffen – ist bei weitem die effizienteste Speicherform für Energie.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Wolfgang Lubitz mit Nachwuchswissenschaftlern in einem Labor des Mülheimer Max-Planck-Instituts für Chemische Energiekonversion. Im Hintergrund sieht man Aufbauten einer Hochfeld-EPR-Maschine. Mit EPR-Techniken wurden wichtige Erkenntnisse zur elektronischen Struktur von Katalysatoren gewonnen.

Soweit die Biochemie. Wie kommen wir nun zur technischen Nutzung?
Die Idee ist, solche Verfahren zu verwenden, um zum Beispiel regenerativ erzeugten Strom zu speichern und über weite Strecken zu transportieren. Sonne und Wind liefern ja im Prinzip mehr als genug saubere Energie, um den weltweiten Bedarf zu decken, aber dort wo sie gebraucht werden, steht diese nicht immer in ausreichender Menge zur Verfügung. Daher suchen wir an unserem Institut nach Wegen, wie man Energie effizient in speicherbare und nutzbare Formen umwandeln kann. Die künstliche Photosynthese ist eine Möglichkeit, die von uns und vielen anderen Arbeitsgruppen intensiv erforscht wird.

Wie weit sind Sie?
Inzwischen haben wir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie die natürliche Photosynthese funktioniert. Diese Erkenntnisse sind unter anderem wichtig, um eine effiziente Spaltung von Wasser in seine Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff im Labor zu realisieren. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die notwendigen Katalysatoren ein: In der Natur sind das die Enzyme Wasseroxidase und die Hydrogenasen.  Im Groben ist die Photosynthese vielen noch aus dem Schulunterricht bekannt, in unserer Forschung geht es um die Feinheiten.

Haben Sie ein Beispiel für uns?
Die Natur verwendet für ihre Reaktionen Enzyme, die häufig vorkommende und preiswerte Metalle wie Mangan, Eisen und Nickel enthalten. Für den chemisch-technischen Einsatz jedoch werden heute fast ausschließlich Edelmetalle wie Platin als Katalysatoren eingesetzt, die sehr gut funktionieren, deren Vorkommen aber leider begrenzt sind. Dem Vorbild der Natur folgend suchen wir daher nach neuen Metall-Katalysatoren, um die künftige Erzeugung von Wasserstoff im großen Maßstab ebenso effizient wie umweltfreundlich zu machen. Das Ziel ist also der sogenannte grüne Wasserstoff, der nicht nur für die Energieversorgung der Zukunft eine zentrale Rolle spielt, sondern auch als einer der wichtigsten Grundstoffe in der Industrie.

Gibt es bereits Ergebnisse?
Katalytische Wasseroxidation und Wasserstofferzeugung sind weltweit sehr intensiv bearbeitete Forschungsgebiete, und es wurden in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielt. Ein perfekter Katalysator, der alle Ansprüche bezüglich Effizienz, Stabilität, Skalierbarkeit, Umweltfreundlichkeit, Materialverfügbarkeit und Preis erfüllt und sich in der Praxis bewährt hat, existiert bisher allerdings noch nicht. Es bleibt damit noch viel Raum für gute Ideen und Entwicklungen auf diesem heißen Forschungsgebiet.

Ein heißes Thema ist derzeit die gesamte Wasserstoffwirtschaft. Welche Chancen räumen Sie ihr ein?
Wir sind inzwischen sehr gut darin, regenerativen Strom zu erzeugen, etwa mithilfe der Photovoltaik (PV), die heute Wirkungsgrade um die 25 Prozent für Siliziumzellen und mehr als 45 Prozent für komplexere PV-Zellen erzielt. Ein Problem bleibt die Speicherung. Batterien sind gesellschaftlich zwar weithin akzeptiert, beispielsweise in der Elektromobilität, aber sie sind nicht sehr effizient und auch nicht umweltfreundlich. Wasserstoff kann ein Vielfaches an Energie speichern und bei seiner Verbrennung entsteht ausschließlich Wasser.  Er eignet sich für die großtechnische Nutzung und bildet eine sehr gute Brücke vom fossilen in ein nachhaltiges Energiezeitalter.

Ihre Forschung in diesem spannenden Bereich läuft, wie Sie sagten, allmählich aus. Heißt das, Sie haben künftig mehr Zeit für die GDNÄ?
Ja, und darauf freue ich mich. Als Mitglied des Vorstandsrats arbeite ich zum Beispiel sehr gern an der Vorbereitung der 200-Jahr-Feier mit, die 2022 in Leipzig stattfinden soll. Da werden gerade tolle Ideen zusammengetragen. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber die Vorträge und Diskussionen werden im attraktiven Kongresszentrum der Messestadt und das Rahmenprogramm zum Teil im berühmten Leipziger Zoo stattfinden. Es gibt ein Schüler- und Besuchsprogramm und viele hochinteressante Vorträge aus unterschiedlichen Disziplinen. Für den Nobelpreisträgervortrag haben wir Reinhard Genzel eingeladen, der das gigantische Schwarze Loch im Herzen unserer Milchstraße entdeckt hat.

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Untersuchung von Proben der Photosynthese bei Grünlicht mithilfe der Paramagnetischen Elektronen-Resonanz (EPR)-Spektroskopie.

Gegründet 1822 in Leipzig hat die GDNÄ eine lange Tradition. Was bedeutet sie Ihnen?
Sehr viel. Für die deutsche Wissenschaft hat die GDNÄ Großartiges geleistet. Auf ihren Versammlungen wurden bedeutende naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorgestellt und debattiert; es gab viele Auseinandersetzungen, aber auch Konsens. Die GDNÄ hat die gesamte Ära der Industrialisierung begleitet und maßgeblich dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit neue Forschungsergebnisse kennenlernte und annahm. Eine Zäsur war die NS-Zeit. Was diese Jahre für die GDNÄ bedeuteten, sollte meiner Ansicht nach näher beleuchtet werden. Das Jubiläum im kommenden Jahr wäre dazu ein geeigneter Anlass.

Welche Zukunft sehen Sie für die GDNÄ?
Es warten große Aufgaben auf sie. Da ist zum einen der immens wichtige Dialog mit der Öffentlichkeit, aber auch der interdisziplinäre Dialog zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, an dem es in Deutschland immer noch hapert.  Die Fördermittelgeber fordern das verstärkt, und da könnte die GDNÄ wichtige Anstöße liefern.  Ein weiterer Punkt ist die Zusammenarbeit mit Schulen. Meiner Erfahrung nach wächst das Interesse an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, denn viele junge Leute erkennen, wie wichtig diese Fächer für die Zukunft sind. Die GDNÄ engagiert sich hier bereits mit ihrem Schülerprogramm. In Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Gesellschaften könnten wir aber noch deutlich mehr tun.

Ein großes Programm, das Sie da skizzieren…
…Moment, bitte, ich bin noch nicht fertig. Ich würde mir auch wünschen, dass die GDNÄ die mögliche Tragweite wissenschaftlicher Erkenntnisse verstärkt zur Sprache bringt. Oft führten diese zu historischen Umwälzungen, denken wir nur an die Entdeckung der Uranspaltung und ihre Folgen in Gestalt der Atombombe und der Kernkraft. Unser ganzes modernes Leben ist von Forschung und Technik geprägt – ohne sie gäbe es weder Internet noch moderne Telekommunikation, keine Antibiotika und Impfstoffe und keinerlei Erkenntnisse zum Umwelt- und Klimaschutz oder zu erneuerbaren Energien. Es ist also nicht vermessen zu sagen: Wissenschaftler verändern die Welt. Was mir auch am Herzen liegt, ist mehr Verständnis für die Methodik der Wissenschaft. Ihre Ergebnisse entwickeln sich in sorgfältig geplanten und durchgeführten Experimenten, die oft fehlerbehaftet sind und mehrfach validiert werden müssen, bis ein zuverlässiges Ergebnis vorliegt. Auf Knopfdruck funktioniert das alles nicht, es braucht seine Zeit. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen und Vertrauen in die Wissenschaft aufzubauen, dazu trage ich gerne bei – zusammen mit der GDNÄ.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies
Wolfgang Lubitz

Zur Person

Professor Wolfgang Lubitz (71) ist Direktor emeritus des Max-Planck-Instituts für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr. Seine Leitungsposition, die er seit dem Jahr 2000 innehatte, gab er mit der Emeritierung 2017 ab. Vor seiner Zeit als Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft wirkte der gebürtige Berliner von 1991 bis 2000 als Professor für Physikalische Chemie an der Technischen Universität Berlin, von 1989 bis 1991 als Professor für Experimentalphysik an der Universität Stuttgart und von 1986 bis 1989 als Professor für Organische Chemie an der Freien Universität Berlin, wo er auch Chemie und Physik studiert, promoviert und sich habilitiert hatte. Von 1983 bis 1984 forschte Lubitz an der University of California San Diego in der Biophysik.

Einen sehr persönlichen Lebensrückblick hat der Wissenschaftler anlässlich seines 65. Geburtstags auf Anfrage des „Journal of Physical Chemistry“ verfasst. Darin schildert er seinen Weg, der ihn aus einfachen Verhältnissen im Berlin der Nachkriegszeit in eine beeindruckende wissenschaftliche Karriere führte, mit vielen interessanten Persönlichkeiten zusammenbrachte und ihm lebenslange Freundschaften bescherte (siehe PDF).

In seiner Forschung beschäftigt sich Wolfgang Lubitz mit der Energiekonversion in der natürlichen und künstlichen Photosynthese und der Wasserspaltung, Wasserstofferzeugung und -nutzung. Ein weiteres Forschungsfeld ist die Entwicklung und Anwendung von spektroskopischen Verfahren, insbesondere der Magnetischen Resonanz. Seine Ergebnisse sind in mehr als fünfhundert wissenschaftlichen Arbeiten publiziert und mit vielen Preisen ausgezeichnet worden.

Mitglied der GDNÄ ist Wolfgang Lubitz seit vielen Jahren; seit 2017 ist er Mitglied des Vorstandsrats der Gesellschaft. Darüber hinaus engagiert er sich seit bald zwei Jahrzehnten im Kuratorium der Lindauer Nobelpreisträgertagungen, dessen Vizepräsident er seit 2014 ist.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Mit der Präsidentin des Kuratoriums der Lindauer Nobelpreisträgertagungen, Gräfin Bettina Bernadotte.

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