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  • Heribert Hofer: „Wir empfangen die jungen Leute mit offenen Armen“

    „Wir empfangen die jungen Leute mit offenen Armen“

    Was wurde erreicht, was steht an? Nach zwei Jahren als GDNÄ-Präsident blickt Heribert Hofer zurück – und voraus auf spannende Zeiten mit der Jungen GDNÄ. 

    Herr Professor Hofer, Ihre Amtszeit als Präsident der GDNÄ neigt sich dem Ende zu. Wie blicken Sie zurück?
    Mit einem guten Gefühl. Die Scheu, die ich zu Beginn angesichts der großartigen Geschichte der GDNÄ empfand, ist überwunden. Dazu beigetragen hat die positive Resonanz bei der Versammlung in Potsdam, deren wissenschaftliches Programm in meiner Amtszeit erarbeitet wurde. Heute bin ich mehr denn je überzeugt, dass die GDNÄ mit ihren Anliegen richtig liegt und eine Lücke im Wissenschaftssystem füllt. Denken wir nur an die einzigartige Verknüpfung des persönlichen, fachübergreifenden Austausches, wie wir ihn auf unseren Versammlungen pflegen, oder an die Programme zur Förderung junger Talente. 

    Sie engagieren sich seit vielen Jahren im Schülerprogramm der GDNA und haben das beliebte Science-Slam-Format „Wissenschaft in 5 Minuten“ auf die Beine gestellt. Empfinden Sie die Gründung der Jungen GDNÄ vor wenigen Wochen in Potsdam als Krönung Ihrer Amtszeit?
    Krönung ist vielleicht eine Nummer zu groß, ich würde eher von einem Highlight  sprechen. Mit der Jungen GDNÄ räumen wir den jungen Leuten deutlich mehr Mitsprache und Gestaltungschancen in unserer Gesellschaft ein. Erkennbar war das in Potsdam zum Beispiel bei den vielen Podiumsgesprächen, in denen junge Leute mit etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf Augenhöhe diskutierten. Das Format fand so großen Anklang beim Publikum, dass wir es in Zukunft beibehalten wollen.

    Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

    © MIKA-fotografie | Berlin

    Mittendrin: Professor Heribert Hofer bei der GDNÄ-Versammlung 2024 in Potsdam.

    Bisher gab es das Schülerprogramm, jetzt ist fast immer die Rede von der Jungen GDNÄ. Wie hängt beides zusammen? 
    Das frühere Schülerprogramm geht in der Jungen GDNÄ auf. In ihr sind nicht nur Schülerinnen und Schüler der Oberstufe vertreten, sondern auch Studierende und Berufsanfänger. Das Altersspektrum ist also wesentlich größer als beim Schülerprogramm und reicht von 17 Jahren bis etwa 32 Jahre. Die Junge GDNÄ, das sind  junge Leute mit sehr guten Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern und in der Medizin und mit Interesse am tatkräftigen Einsatz in der GDNÄ.

    Wie reagieren die Nachwuchstalente auf das Angebot?  
    Die freuen sich unglaublich über das Interesse gestandener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihnen. Viele von ihnen kommen nämlich mit der Vorstellung auf unsere Versammlungen, dass die Älteren sich nicht für sie interessieren – eine Erkenntnis, die mich in den letzten Jahren immer wieder erstaunt hat.  Mit der Jungen GDNÄ empfangen wir die jungen Leute mit offenen Armen und das finden die toll. Es gibt auch schon eine Menge Anregungen und Wünsche. Deutlich wurde das kürzlich bei einer Strategiesitzung, an der neben dem GDNÄ-Vorstand auch drei gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Jungen GDNÄ teilnahmen. 

    Was wünschen sich junge Frauen und Männer von der GDNÄ? 
    Zum Beispiel interessante Angebote zwischen den Versammlungen, Gelegenheiten zum persönlichen Austausch auf lokaler Ebene und mit etablierten GDNÄ-Mitgliedern. 

    Was folgt jetzt daraus? 
    Fest eingeplant ist eine Zusammenkunft der Jungen GDNÄ im kommenden Jahr, in dem ja keine große GDNÄ-Versammlung stattfindet. Das Treffen dient der inneren Vernetzung und Strategiediskussion. Wir wollen auch Ortsgruppen aufbauen, in denen GDNÄ-Mitglieder aller Altersstufen zusammenkommen, um zu diskutieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Ein Anfang wurde bereits 2018 durch den damaligen Präsidenten Wolfgang Wahlster gemacht, aber in den Pandemiejahren ist die Initiative verständlicherweise eingeschlafen. Denkbar sind darüber hinaus interessante Veranstaltungen, zum Beispiel Führungen in Instituten oder Firmen. Wahrscheinlich werden wir in ein paar Universitätsstädten anfangen und unser Ortsgruppennetz Schritt für Schritt erweitern. Erste Gruppen gibt es voraussichtlich in einem halben Jahr.  

    AleutBio-Team © 2022, Thomas Walter, Expedition SO293 AleutBio

    © MIKA-fotografie | Berlin

    „Wissen teilen heißt Wissen multiplizieren“ steht es auf dem T-Shirt, mit dem GDNÄ-Präsident Heribert Hofer zum Abschluss der 133. Versammlung in Potsdam von Generalsekretär Michael Dröscher bedacht wurde.

    Sie skizzieren ein intergenerationelles Projekt. Werden die älteren GDNÄ-Mitglieder mitspielen?
    Ich bin da ganz zuversichtlich. Die Beiträge der Jungen GDNÄ kommen bei den Versammlungen sehr gut an, sowohl bei den Vortragenden als auch beim Publikum. Und in vielen Gesprächen mit etablierten Mitgliedern habe ich eine große Bereitschaft gespürt, sich für die Förderung des Nachwuchses zu engagieren. 

    Das Vorhaben erfordert viel Koordination: Wer hält in der GDNÄ die Fäden zusammen?
    Als künftiger Vizepräsident werde ich diese Aufgabe für zwei Jahre übernehmen. Darauf haben wir uns im Vorstand geeinigt. Es wird viel Arbeit sein, aber ich freue mich darauf. 

    Sie haben demnächst vielleicht auch mehr Zeit für solche Projekte.
    Richtig. Ende März 2025 erreiche ich das Pensionsalter und damit endet meine Amtszeit als Direktor des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung. Auch die reguläre Professur für dieses Fachgebiet an der Freien Universität Berlin läuft dann aus. Ich werde zwar weiterhin als Seniorprofessor an meiner Universität tätig sein, aber die Arbeitsbelastung wird deutlich sinken. Das gibt mir Zeit für die GDNÄ. 

    Und was wird aus Ihrer spektakulären Hyänenforschung in der Serengeti?
    Damit mache ich auf jeden Fall weiter. Nicht unbedingt vor Ort in Tansania, das machen jetzt andere, insbesondere Sarah Benhaiem, an die ich das Projekt übergeben habe. Aber in den 37 Jahren meiner Hyänenforschung sind große Datenmengen entstanden, die auf ihre Auswertung und Publikation warten. Das wird mich locker fünf Jahre beschäftigen.

    Mit Medaille und Urkunde in der Bielefelder Stadthalle © David Ausserhofer

    © MIKA-fotografie | Berlin

    Der Berliner Zoologe Prof. Dr. Heribert Hofer, GDNÄ-Präsident von 2023 bis 2024 und 1. Vizepräsident ab Anfang 2025.

    Zur Person

    Professor Heribert Hofer, Direktor des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, wurde von der GDNÄ-Mitgliederversammlung für die Jahre 2023 und 2024 in das Präsidentenamt gewählt und war somit zuständig für die wissenschaftliche Gestaltung der 133. Versammlung im Jahr 2024 in Potsdam.

    Der renommierte Zoologe (64) leitet das Leibniz-IZW in Berlin-Friedrichsfelde seit dem Jahr 2000 und ist seither auch Professor für Interdisziplinäre Wildtierforschung an der Freien Universität Berlin. Vor seiner Berliner Zeit forschte er von 1986 bis 1999 am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie im bayerischen Seewiesen, zunächst als Postdoktorand, später als selbstständiger Wissenschaftler. 1997 habilitierte er sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über das Verhalten von Tüpfelhyänen in der Serengeti-Savanne. Sein Studium der Zoologie begann Heribert Hofer an der Universität des Saarlandes und schloss es an der Universität Oxford mit der Promotion zum „DPhil“ ab.

    Der GDNÄ ist der international bekannte Wissenschaftler seit vielen Jahren eng verbunden. Er engagierte sich als gewählter Fachvertreter und Gruppenvorsitzender für das Fach Biologie, mit Redebeiträgen auf Versammlungen, als Vizepräsident bei der Vorbereitung der 200-Jahr-Feier in Leipzig, und seit Anfang 2023 als Präsident der GDNÄ. Am 1. Januar 2025 wechselt Professor Hofer für zwei Jahre in das Amt des 1. Vizepräsidenten der Naturforschergesellschaft.

    Weitere Informationen:

    Professor Dietrich von Engelhardt: „Auch als Naturforscher machte Goethe großen Eindruck“

    „Auch als Naturforscher machte Goethe großen Eindruck“

    Dietrich von Engelhardt, Wissenschaftshistoriker und Mitglied der GDNÄ, dokumentiert in seinem neuen Buch den internationalen Widerhall auf Johann Wolfgang von Goethes naturwissenschaftliche Schriften im 19. Jahrhundert – und füllt damit eine Forschungslücke.

    Herr Professor von Engelhardt, vor Kurzem ist Ihr Buch „Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts“ erschienen. Sie sind der Herausgeber des 670 Seiten starken Werks. Was hat Sie zu dieser Arbeit veranlasst?
    Mit Goethe und seinen Beziehungen zu den Naturwissenschaften und der Medizin um 1800 beschäftige ich mich seit Jahrzehnten. Dabei fiel mir auf, dass in der Forschung die deutsche und internationale Rezeption von Goethe als Naturforscher in den Naturwissenschaften und der Medizin des 19. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen nicht behandelt wurde. Das war für mich jetzt der Anlass, das Echo der Fachwelt mit ausgewählten, teils an entlegenen Orten gefundenen Texten zu dokumentieren. Die 670 Seiten sind der Fülle bemerkenswerter Aufsätze geschuldet.

    Für welche Zielgruppe ist der Band gedacht?
    Das Werk richtet sich an Goethe-Forscher, Wissenschafts- und Medizinhistoriker und alle Menschen, die sich für Goethes Beiträge zu den Naturwissenschaften und der Medizin interessieren.

    Nach welchen Kriterien haben Sie die Beiträge ausgewählt?
    Die 48 Aufsätze von Wissenschaftlern, von denen viele Mitglieder der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte waren, sollen einen international repräsentativen Eindruck der Rezeption in den Naturwissenschaften und der Medizin des 19. Jahrhunderts geben. Auf umfangreiche monografische Darstellungen, die ich in der ausführlichen Einleitung erwähne und die in der Gesamtbibliografie von 240 Texten angeführt werden, musste ich aus Platzgründen verzichten.

    Der Band enthält Texte auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Niederländisch. Warum haben Sie sich für die Originalsprache entschieden?
    Es geht mir um einen authentischen Eindruck in Sprachen, die auch Goethe verstanden hat. Außerdem können auf diese Weise ausländische Zitate unmittelbar aus den Texten angeführt und bibliographisch belegt werden. Wer Übersetzungen wünscht, kann dies heute problemlos mit entsprechenden Programmen tun.

    © SUB Göttingen Cod. Ms. Lichtenberg VI, 44.

    Seine Farbenlehre, symbolisiert im Farbenkreis, verstand Goethe als sein wichtigstes Werk.

    Welche Texte würden Sie dem eiligen Leser ans Herz legen?
    Für eilige Leser empfehle ich vor allem die Beiträge von Carl Gustav Carus (zuerst erschienen 1843), Hermann von Helmholtz (1853), Rudolf Virchow (1861), Emil Du Bois-Reymond (1882) und Ernst Haeckel (1882) – alle waren sie Mitglieder der GDNÄ. Unter den ausländischen Texten verdienen die Ausführungen von Ernest Faivre (1859), François-Louis Hahn (1883), François-Jules Pictet (1838) und John Tyndall (1880) besondere Beachtung. Sehr eindrucksvoll ist auch das Kapitel über den englischen Biologen Thomas Henry Huxley – ihm wurde auf der Versammlung von 1877 in München die Ehrenmitgliedschaft der GDNÄ verliehen. Huxley hat die 1869 erschienene erste Ausgabe des heute international maßgeblichen Wissenschaftsmagazins Nature mit Aphorismen zur Natur von Goethe eröffnet (siehe Randspalte).

    Zwischenkieferknochen, Farbenlehre, Urpflanze: Der Naturforscher Goethe hat sich mit beeindruckend vielen wissenschaftlichen Themen beschäftigt. Wie kam es dazu?
    Lebenslang waren für Goethe die anorganische und organische Natur, ihre Phänomene, Prozesse und Entwicklungen von großem Interesse. „Erfahrung, Betrachtung, Folgerungen – durch Lebensereignisse verbunden“ – so beschrieb er seine Methode in der Naturforschung. Farben sind für Goethe nicht nur mathematische und physikalische Phänomene, für ihn besitzen sie gleichermaßen ethische, psychologische und kulturhistorische Bedeutungen. Das Phänomen der Metamorphose gilt für die Pflanze und das Tier: „Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur“, heißt es in einem nachgelassenen Text namens Morphologie. Goethe veröffentlichte auch zahlreiche wissenschaftstheoretische Schriften, darunter Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt oder Erfinden und Entdecken oder Analyse und Entdecken. Die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes umfassen in der wissenschaftlich-kritischen Ausgabe der Leopoldina elf Bände.

    Goethe war Dichter und Naturforscher: Wirkte sich das eine auf das andere aus?
    Bei allen Unterschieden, an die Goethe wiederholt erinnert, war ihm die Verbindung der zwei, oder besser, der vier Kulturen überaus wichtig. Gemeint sind die Kulturen der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften, der Künste und des Lebens. Diese Verbindung zeigt sich sowohl in Goethes wissenschaftlichen als auch in seinen literarischen Texten wie ebenfalls in seinen autobiographischen Schriften Dichtung und Wahrheit oder in der Italienischen Reise. Ein literarisches Beispiel ist der Roman Die Wahlverwandtschaften, der in Titel und Inhalt mit der zeitgenössischen Chemie korrespondiert und die Beziehungen der Elemente in Analogie zu den Beziehungen der Menschen interpretiert. Allerdings weist Goethe ausdrücklich auf die Freiheit und Verantwortung des Menschen hin, sinnlichen Anziehungen auch widerstehen zu können. In der Farbenlehre entwickelte Goethe zahlreiche Ideen zu Theorie und Praxis der Farben in der Malerei. Und das Gesetz der Urpflanze, so erkennt Goethe in Italien, wird sich auf „alles Lebendige anwenden lassen“.

    © Frithjof Spangenberg, Illustrationen & Kommunikationsdesign

    Die Illustration zeigt einen Schafsschädel mit deutlich sichtbarem Zwischenkieferknochen (os intermaxilliare, rechts vorne). Um dieses Thema entbrannte ein heftiger Streit zwischen Goethe und dem GDNÄ-Gründer Lorenz Oken.

    Inwiefern war Goethe als Naturforscher ein Kind seiner Zeit?
    Goethe kannte sich in den Naturwissenschaften und der Medizin seiner Zeit bestens aus. Er wurde vom Stand der Wissenschaften beeinflusst, pflegte Verbindungen zu vielen Naturforschern und Medizinern der Zeit, beachtete aber auch die historische Entwicklung der Wissenschaften und einzelne Forscher der Vergangenheit. Die Farbenlehre ist ein besonderes Beispiel: Ihr widmete Goethe ein ganzes Buch, das ihre Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart beschreibt.

    Wie reagierten Goethes Zeitgenossen auf seine Arbeiten?
    Das Spektrum der Reaktionen war, wie im vorliegenden Werk deutlich wird, unter Naturwissenschaftlern und Medizinern seiner Zeit und bis in die Gegenwart hinein vielfältig und unterschied sich nach naturwissenschaftlichen Disziplinen. Ausgesprochen kritisch fielen die Reaktionen in der Physik aus. Zustimmung gab es mehrfach in der Geologie, Botanik und Anatomie. Nach Ansicht von Nees von Esenbeck, Mitglied der GDNÄ und von 1818 bis 1838 Präsident der Leopoldina, hat Goethe zum ersten Mal die Pflanzenwelt nach „wissenschaftlichen Prinzipien“ geordnet und philosophisch eingeleitet. Insgesamt hat der Naturforscher Goethe seine Zeitgenossen stark beeindruckt. Notwendig und aufschlussreich wäre jetzt ein Vergleich mit den Reaktionen in den Geisteswissenschaften und Künsten seit dem 19. Jahrhundert bis heute – eine Arbeit, die ich anderen Forschern überlassen möchte.

    Wie stand Goethe zur GDNÄ?
    Goethe nahm interessiert und zustimmend Anteil an den Versammlungen der 1822 gegründeten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und verfasste eine zu seiner Zeit nicht veröffentlichte, aber später mehrfach gedruckte Studie über die GDNÄ. Er begrüßte vor allem das Anliegen der neuen Forschergesellschaft, Wissenschaftler persönlich in Kontakt zu bringen und vermerkte zugleich, dass ihre Mitglieder nicht die „mindeste Annäherung“ zu seiner „Sinnes-Art“ hätten. Alexander von Humboldt bezeichnete Goethe in seiner Rede auf der Berliner Tagung 1828 als „Patriarchen vaterländischen Ruhmes“, den seine literarischen Schöpfungen nicht abgehalten hätten, „den Forscherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen“.

    Wie war Goethes Verhältnis zu Lorenz Oken, dem Gründer der GDNÄ?
    Das Verhältnis war beiderseits ambivalent, Ein Plagiatsstreit zwischen Goethe und Oken löste die Entdeckung des Schädelwirbels aus, die Oken 1807 in einer Veröffentlichung beschrieb und auch Goethe schickte. Der war sehr angetan von der Studie. Er lud Oken nach Weimar ein und setzte sich für dessen Berufung an die Universität Jena ein, wofür Oken ihm überaus dankbar war.  1823 reklamierte Goethe in den Heften zur Morphologie die Entdeckung für sich selbst. Er habe sie 1790 anhand eines auf den Dünen des Lidos von Venedig gefundenen Schafschädels gemacht, die Entdeckung dann zwar nicht veröffentlicht, aber mehrfach in Briefen aus Italien nach Deutschland darüber berichtet. An der Kontroverse beteiligten sich viele Wissenschaftler und nahmen mehrfach für Oken Partei. In anderen Bereichen standen sich Goethe und Oken durchaus nahe. Trotz abweichender politischer Auffassungen und obwohl er das Verbot von Okens Zeitschrift Isis in Thüringen durchsetzte, bezeichnete Goethe den GDNÄ-Gründer als „genial“.

    Nehmen Sie heute noch ein Interesse an Goethe als Naturforscher wahr?
    Ein neues Interesse ist in der Gegenwart vor allem an Goethes Farbenlehre zu beobachten. Man versucht, Goethes Forschungen, Beobachtungen und Auffassungen auf diesem Gebiet im Sinne seines ganzheitlichen Naturverständnisses zu verstehen, das sich vom objektiven oder auch experimentell-statistischen Wissenschaftsbegriff der Moderne abhebt. Sehr deutlich wird das in Goethes von Physikern meist vernachlässigten psychologisch-kulturellen Interpretation der Farben und an seinem Konzept der Metamorphose und Morphologie in den organischen Wissenschaften.

    Inwiefern kann Goethe zu einem Zusammenwachsen der Kulturen in Wissenschaft und Kunst beitragen?
    Goethes Bedeutung liegt ohne Zweifel auch in seinem Beitrag zur Überwindung oder, besser gesagt, Milderung der Trennung der zwei beziehungsweise vier Kulturen. Es kam Goethe insbesondere auf eine wechselseitige Verbindung und Kommunikation zwischen diesen Kulturen an, was für Naturwissenschaften und Medizin eine Herausforderung darstellt. Umgekehrt müssten aber auch die Künste und Geisteswissenschaften ihre naturwissenschaftliche Basis oder Abhängigkeit von der Natur erkennen – eine wohl noch größere Herausforderung. Wie sehr die Mühe sich lohnen kann, beschreibt Goethe so: „Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur und zugleich sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geist Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluss miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.“

    Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

    © Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung Lübeck

    Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt

    © J.B. Metzler, Heidelberg 2024

    Zur Person

    Dietrich von Engelhardt war von 1983 bis 2007 Ordinarius für Geschichte der Medizin und Allgemeine Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Naturphilosophie, Naturwissenschaften, Medizin in Idealismus und Romantik sowie europäische Wissenschaftsbeziehungen. 1997 organisierte Professor Engelhardt ein großes Symposium zum 175-jährigen Bestehen der GDNÄ in Lübeck. Er ist Herausgeber der zugehörigen Festschrift Forschung und Fortschritt sowie der Schriftenreihe über Die Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. Dietrich von Engelhardt ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und seit 1981 auch der GDNÄ. 2016 erhielt er die Alexander-von-Humboldt-Medaille der GDNÄ.

    © Chris Light

    Im Jahr 1786 besuchte Goethe den Botanischen Garten in Padua. Bei der Betrachtung einer Fächerpalme kam ihm die Idee, dass alle Pflanzenarten vielleicht aus einer Art entstanden sein könnten. Der heute Goethe-Palme genannte Baum steht noch heute da und eine vorn angebrachte Tafel enthält in italienischer Sprache folgende Inschrift: „Johann Wolfgang Goethe, Dichter und Naturforscher entnahm hieraus den Gedanken und die Beweise seiner Metamorphose der Pflanzen.“

    Thomas Henry Huxley in der Erstausgabe von Nature, 1869

    „It may be, that long after the theories of the philosophers whose achievements are recorded in these pages, are obsolete, the vision of the poet will remain as a truthful and efficient symbol of the wonder and the mystery of Nature.“

    (in: Dietrich von Engelhardt: Goethe als Naturforscher, S. 291)

    Zum Weiterlesen:

    Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung:

    © Stadtmuseum Dresden

    Der deutsche Universalgelehrte und Maler Carl Gustav Carus (1789-1869) war sowohl Goethe als auch der GDNÄ eng verbunden.

    Martin Lohse: „Über Placebos oder die Therapie mit nichts“

    Über Placebos oder die Therapie mit nichts

    Martin Lohse, Pharmakologie-Professor und Vizepräsident der GDNÄ, über die verblüffenden Wirkungen von sogenannten Scheinmedikamenten und wie sie die Medizin bereichern können.

    Herr Professor Lohse, bei der GDNÄ-Versammlung in Potsdam hielten Sie kürzlich einen Vortrag über Placebos oder die Therapie mit nichts. Ihr Metier als Pharmakologe ist aber doch eher die Therapie mit etwas. Wie passt das zusammen?
    Auf den ersten Blick könnte man da einen Widerspruch sehen. Aber Placebo-Wirkungen begleiten auch jede Arzneimitteltherapie sowie andere medizinische Maßnahmen, und deshalb gehören sie dazu.

    Das Publikum war begeistert von Ihrem Vortrag, applaudierte ausgiebig und hatte viele Fragen. Woher rührt das große Interesse an diesem Thema?
    Ich denke, dass viele Menschen sich davon angesprochen fühlen, weil sie so etwas selbst erlebt oder bei anderen gesehen haben und sich dazu Gedanken machen. Bei dem Thema kreuzen sich auch verschiedenartigste Denkrichtungen – von der wissenschaftlichen Arzneitherapie bis hin zum Schamanismus.

    Wie kamen Sie auf das Thema?
    Mehr als zwanzig Jahre lang habe ich es in meinen Pharmakologie-Einführungsvorlesungen behandelt, weil ich denke, dass Ärzte und Apotheker darüber Bescheid wissen sollten. Sie alle arbeiten ja, bewusst oder unbewusst, mit Placebo-Wirkungen. Dazu gehören auch schädliche Wirkungen, sogenannte Nocebo-Effekte. Über die Jahre habe ich mich dann tiefer in die Materie eingearbeitet, weil ich wissen wollte, was in diesem Feld eigentlich belegt und was nur Vermutung ist. Gerade in jüngerer Zeit bin ich auf viele neue Ergebnisse und auch manches Erstaunliche gestoßen.

    Was hat Sie am meisten erstaunt?
    Dass bei Placebo-Wirkungen im Kopf des Arztes die gleichen Gehirnzentren aktiviert werden wie im Kopf des Patienten. Das ist vor allem in der Therapie von Schmerz untersucht worden. Es scheint so zu sein, dass der Arzt zunächst die Schmerzen des Patienten nachempfinden muss. Dann kann er mit dieser Vorstellung seine eigenen schmerzunterdrückenden Systeme aktivieren, und das wiederum überträgt sich auf den Patienten. Diese Fähigkeit des Arztes korreliert eng mit seiner Fähigkeit zur Empathie, wie sie in psychologischen Tests gemessen werden kann. In meinem Vortrag bin ich näher auf entsprechende Forschungsergebnisse eingegangen.

    Schema der Wechselwirkung zwischen Patienten und Ärzten bei der Schmerzunterdrückung

    Placebo-Effekte bei der Schmerz-Unterdrückung entstehen durch die Interaktion von Patienten und Ärzten. Schmerz aktiviert bei Patienten sogenannte Schmerzzentren im Gehirn gelber Stern), wie die funktionelle Kernspin-Resonanz-Bildgebung zeigt. Wenn empathische Ärzte mit solchen Patienten zusammenkommen, dann aktivieren sie ihrerseits die gleichen Zentren im Gehirn. Sie können aber auch die eigenen schmerzunterdrückenden Zentren in ihrem Gehirn in Gang setzen (blaues Symbol). Dies überträgt sich auf Patienten und führt bei ihnen zur Aktivierung von schmerzunterdrückenden Nerven, die körpereigene Opioide und andere Überträgerstoffe im Körper freisetzen und so die schmerzunterdrückende Placebo-Wirkung erzeugen. Dieser Effekt entsteht unabhängig davon, ob das Arzneimittel, das dem Patienten dabei verabreicht wird, einen schmerzstillenden Wirkstoff enthält oder ob es ein reines Placebo ist.

    Was bedeutet das für die ärztliche Praxis?
    Ärzte, die es verstehen, sich in ihre Patienten hineinzuversetzen, können mit Empathie in der wechselseitigen Beziehung sehr viel bewirken. Es wäre gut, wenn wir solche Placebo-Effekte systematischer und begründeter nutzen könnten, nicht nur intuitiv und basierend auf persönlicher Erfahrung. Deshalb sollten wir das Wissen auf diesem Feld vermehren und es auch stärker in die Ausbildung von Ärzten und Apothekern einfließen lassen.

    Kann man Empathie, die ja offenbar eine große Rolle spielt, überhaupt lehren und lernen?
    Manches ist Talent und manches kann man lernen. Aber da es sich um eine zentrale Kompetenz von Therapeuten handelt, sollte das Thema eigentlich die gesamte Ausbildung begleiten. Die heutigen Kurse in Medizinischer Psychologie für angehende Ärzte sind ein Anfang.

    Wie weit ist die Placebo-Forschung?
    Im Vergleich zu vielen anderen Bereichen in der Medizin steht sie noch am Anfang. Von einer ernst zu nehmenden, naturwissenschaftlich begründeten Placebo-Forschung können wir erst seit rund drei Jahrzehnten sprechen. In ihr begegnen sich Medizin, Psychologie und die neuen bildgebenden Verfahren. Vor allem die funktionelle Kernspin-Bildgebung gibt uns eine Vorstellung davon, was im Kopf von Patienten und Therapeuten passiert. Es geht also voran in der Placebo-Forschung und Deutschland spielt dabei eine wichtige Rolle. Vor vier Jahren wurde zum Beispiel ein überregionaler Sonderforschungsbereich  eingerichtet, der schon zu einer Reihe interessanter Ergebnisse geführt hat. 

    Eröffnung der Büros Postplatz 1 © Paul Glaser

    © MIKA-fotografie | Berlin

    Großes Publikumsinteresse: Nach dem Vortrag gab es viele Fragen und Kommentare zur Placebo-Wirkung.

    Placebos wurden bisher ja vor allem in Arzneimittelstudien eingesetzt, um herauszufinden, ob Arzneimittel im Vergleich zu ihnen wirken. Lernt man daraus auch etwas, wie Placebos wirken?
    Eigentlich nicht, denn in solchen Studien dient der Placebo-Arm nur als Hintergrund, vor dem sich die Wirkung eines Arzneimittels zeigen soll. Aber die Behandlung mit Placebos ist nicht neutral. Das zeigen Studien mit offenen Placebos, bei denen die Patienten wissen, dass sie Placebo bekommen und dennoch eine Heilwirkung verspüren. Vermutlich gibt es viele Arten von Placebo-Effekten – so wie es ja auch zahllose Arzneimittel gibt. Die sollten wir künftig im Einzelnen charakterisieren und in ihrem Zusammenwirken untersuchen.

    Noch ein paar Worte zu Arzneimittelstudien: Dass Verum allein gegen Placebo getestet wird, kommt kaum noch vor. Denn wenn es bereits wirksame Arzneimittel gibt, verbietet sich aus ethischen Gründen die Gabe von Scheinpräparaten. In diesen Fällen testet man Standardbehandlung plus Placebo gegen Standardbehandlung plus neues Arzneimittel. Das erschwert neuen Arzneimitteln die Marktzulassung: Sie müssen nicht nur selbst wirken, sondern einen Nutzen zusätzlich zur Standardtherapie bringen. 

    Lassen Sie uns einmal genauer auf den Placebo-Effekt schauen: Was weiß man über seine psychologischen und biologischen Grundlagen?
    Psychologisch wichtig ist die Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten. Sowohl positive als auch negative Erwartungen haben einen starken Einfluss auf den Behandlungserfolg – die Therapie mit nichts gründet sozusagen in unseren Erwartungen. Über die biologischen Vorgänge wissen wir noch sehr wenig. Bekannt ist, dass Placebos die Aktivität bestimmter Hirnregionen erhöhen. Zum Beispiel aktivieren Placebos bei der Schmerzunterdrückung genau jene Regionen und Nervenbahnen im Gehirn, die für die Kontrolle der Schmerzwahrnehmung da sind. 

    Braucht es Pillen für die Placebo-Wirkung oder reicht die positive Erwartung?
    Pillen, ob mit oder ohne Wirkstoff, oder auch andere spezifische Maßnahmen wie zum Beispiel die Akupunktur haben eine Placebo-Wirkung. Optimal ist ein gutes Arzneimittel kombiniert mit positiven Erwartungen. So zeigen die meisten Studien, dass Arzneimittel plus Placebo doppelt so gut wirkt wie Placebo allein. 

    Bei welchen Krankheiten ist der Placebo-Effekt am größten?
    Bei Schmerzen ist der Effekt gut untersucht, speziell auch bei Migräne, bei funktionellen Störungen im Magen-Darm-Trakt und allgemein bei Störungen mit einer starken psychosomatischen Komponente. Auch Depressionen lassen sich oft gut mit Placebos lindern. Diese Wirkung ist überzeugend nachgewiesen und sie macht Studien zu Antidepressiva so schwierig. 

    Bei welchen Krankheiten sollte man nicht auf den Placebo-Effekt setzen?
    Immer dann, wenn man weiß, dass es Arzneimittel mit einem guten Verum-Effekt gibt, deren Inhaltsstoffe also nachweislich gegen eine bestimmte Krankheit helfen. In diesem Fall muss man das Verum auch einsetzen – im Wissen, dass seine Wirkung durch Placebo-Effekte ergänzt wird. Tut man das als Arzt nicht, etwa in der Krebstherapie, wird es gefährlich. Das ist ja auch der stärkste Vorwurf gegen umstrittene Therapierichtungen wie etwa die Homöopathie. 

    Nicht wenige Patienten berichten von verblüffenden Heilungserfolgen durch homöopathische Mittel. Wie stehen Sie dazu?
    Gute Homöopathen verstehen es, Placebo-Effekte effizient zu nutzen. Darauf beruht die Wirkung der Homöopathie und nicht auf den fast unendlich verdünnten Arzneimitteln, die sie verwendet. Diesen Mitteln Verum-Effekte zuzuschreiben, halte ich für Unfug. 

    Wie geht es weiter in Sachen Placebo-Effekt?
    Ich rechne schon bald mit vielen neuen Erkenntnissen. Und ich hoffe, dass wir ganz unterschiedliche Placebo-Wirkungen und -Mechanismen identifizieren und verstehen werden, und dass wir daraus praktische Konsequenzen für die Ausbildung und die therapeutische Tätigkeit ziehen können.

    Heribert Hofer © MIKA-fotografie | Berlin

    © MIKA-fotografie | Berlin

    Placebo oder Therapie mit nichts:  Zu diesem Thema hielt der Pharmakologe und GDNÄ-Vizepräsident Martin Lohse den öffentlichen Leopoldina-Vortrag 2024.

    So wirken Arzneimittel: Eine zeitlich begrenzte, von selbst abheilende Erkrankung verursacht eine Zeitlang Symptome wie Fieber oder Schmerzen – das beschreibt die glockenförmige äußere Kurve.

    So wirken Arzneimittel: Eine zeitlich begrenzte, von selbst abheilende Erkrankung verursacht eine Zeitlang Symptome wie Fieber oder Schmerzen – das beschreibt die glockenförmige äußere Kurve. Wenn man auf dem Höhepunkt der Symptome ein wirksames Arzneimittel gibt, etwa eines, das Fieber senkt, dann nehmen die Symptome zügig ab. Dazu tragen zwei Komponenten bei: die Placebo-Wirkung (blauer Bereich) und die Wirkung des Arzneistoffs, auch Verum genannt (roter Bereich).

    Zur Person

    Martin Lohse ist Professor für Pharmakologie und Toxikologie, Geschäftsführer des bayerischen Forschungsunternehmens ISAR Bioscience in Martinsried und Vizepräsident der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ). Als deren Präsident in den Jahren 2019 bis 2022 prägte er die 200-Jahr-Feier der Naturforschergesellschaft in Leipzig mit dem Tagungsthema „Wissenschaft im Bild“ (PDF). Er ist Herausgeber der aus diesem Anlass veröffentlichten Festschrift „Wenn der Funke überspringt“. Für seine Forschung über G-Protein gekoppelte Rezeptoren erhielt er den höchsten deutschen Wissenschaftspreis, den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und viele weitere Auszeichnungen.

    Ausführlicher Lebenslauf zum download (PDF)

    Weitere Informationen

    Günther Hasinger: „So eine Chance gibt es nur einmal im Leben“

    „So eine Chance gibt es nur einmal im Leben“

    Günther Hasinger, Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums für Astrophysik, über seine Herkulesaufgabe in der sächsischen Lausitz, den Umgang mit skeptischen Bürgern und die musikalische Seite der GDNÄ.

    Herr Professor Hasinger, vor einem Jahr wurden Sie als Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums für Astrophysik (DZA) in der sächsischen Lausitz berufen. Wie können wir uns Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
    Von einem Alltag im üblichen Sinn kann man noch nicht sprechen, dafür gibt es uns nicht lange genug. Die politische Entscheidung für unser Zentrum fiel ja erst im Herbst 2022. Das war quasi unser Urknall: Davor gab es nichts, jetzt entsteht alles Schritt für Schritt. 

    Was sind die nächsten Etappen? 
    Bereits 2025 werden wir hier drei große internationale Fachkonferenzen ausrichten. Anfang 2026 ist die offizielle Gründung des DZA vorgesehen – derzeit befinden wir uns noch in der Aufbauphase. Im Wintersemester 2026/2027 soll der neue Masterstudiengang Astrophysik mit fünf Professuren an der Technischen Universität Dresden anlaufen. Um 2030 hoffen wir, unsere neuen zentralen Gebäude am Ortsrand von Görlitz beziehen zu können. In rund zehn Jahren werden rund tausend Menschen am DZA arbeiten. 

    Ein sportlicher Zeitplan. Wo stehen Sie aktuell?
    Wir liegen ziemlich gut im Plan. Im ersten Jahr haben wir gut 20 Leute eingestellt, vor allem im Verwaltungsbereich, in diesem Jahr sollen nochmal so viele dazukommen. Im historischen Postamt von Görlitz richten wir gerade ein Übergangsquartier für fünf Jahre ein. Die Planungen für das künftige Zentrum laufen auf Hochtouren. Jetzt geht es erst einmal darum, tragfähige Strukturen für ein weltweit einmaliges Großforschungszentrum zu schaffen. 

    Wer unterstützt Sie bei dieser Herkulesaufgabe?
    Ein großes Team von tollen Kolleginnen und Kollegen aus zehn renommierten Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland, darunter das Deutsche Elektronen Synchrotron DESY in Zeuthen und die TU Dresden. Wir haben den Antrag zur Errichtung des DZA gemeinsam gestellt und teilen uns jetzt die Arbeit. Viel Unterstützung kommt auch aus Wirtschaft und Politik, direkt vor Ort in Görlitz, und natürlich auf Bundes- und Landesebene.

    Eröffnung der Büros Postplatz 1 © Paul Glaser

    © Paul Glaser

    Schlüsselübergabe mit prominentem Besuch: Zur Einweihung des DZA-Übergangsdomizils im Zentrum von Görlitz trafen sich im Februar 2024 (v.l.)  Sachsens Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow, TU-Dresden-Rektorin Ursula Staudinger, Ministerpräsident Michael Kretschmer, Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, DZA-Chef Günther Hasinger und der Görlitzer OB Octavian Ursu.

    Ermöglicht wird das DZA durch Mittel aus dem Strukturwandelfonds für Braunkohlegebiete. Wie hoch ist das Budget?
    Bis 2038 stehen staatlicherseits insgesamt 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Geld kommt zu 90 Prozent vom Bund und zu zehn Prozent vom Land Sachsen und fließt in Jahrestranchen. Zusätzlich wollen wir Drittmittel von nationaler und internationaler Seite einwerben. Unser Budget ist großzügig bemessen, aber damit allein ist es nicht getan. 

    Sie brauchen mehr?
    Wir müssen auch an Wohnungen, Schulen und Kitas für unsere Mitarbeiter denken, an die Lebensqualität vor Ort, an Straßen und Bahnstrecken. Zu solchen Themen führen wir gerade viele Gespräche. Fantastisch wäre eine neue ICE-Strecke, die Berlin über Dresden und Görlitz nach Breslau führt. Verkehrsmäßig ist die Region derzeit abgehängt, aber mit schnellen Zugverbindungen ergäben sich ganz neue Chancen – auch für wissenschaftliche Kontakte, wie wir sie gerade in Polen und Tschechien knüpfen, konkret zu Universitäten in Breslau und Prag.

    Veranstaltung im Rahmen der SPIN2023 Kampagne in Crostwitz © Paul Glaser

    © Paul Glaser

    Bei einer Diskussionsveranstaltung zu den Perspektiven des Wissenschaftslands Sachsen im Januar 2024 in Crostwitz.

     

    Stichwort Wissenschaft: Wo liegt der Fokus des DZA?
    Es gibt drei Schwerpunkte. Zum einen die astrophysikalische Grundlagenforschung, die uns helfen soll, die Entwicklung des Universums zu verstehen. Hier geht es darum, Signale aus der Frühzeit des Kosmos zu empfangen und auszuwerten. Möglich ist das mit modernen Teleskopen, die über die ganze Welt verteilt sind, im chilenischen Hochland ebenso wie im antarktischen Eis. Derzeit entstehen neue, riesengroße Radioobservatorien in Australien und Afrika. Europa plant mit dem Einstein-Teleskop ein weiteres gigantisches Forschungsinstrument. Die Messergebnisse all dieser Anlagen sollen künftig in Sachsen zusammenlaufen, wo der größte zivile Datensatz der Welt entstehen wird, viel größer als das heutige Internet. Dieser Schatz soll kostengünstig und stromsparend ausgewertet werden und hier kommt unser zweiter Schwerpunkt ins Spiel: Das DZA wird neue Technologien und Algorithmen für eine ressourcenschonende Digitalisierung entwickeln, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen. Schwerpunkt Nummer drei ist ein Technologiezentrum, in dem wir innovative Lösungen für Observatorien entwickeln – ich denke da zum Beispiel an neue Halbleitersensoren, Silizium-Optiken oder Regelungstechniken. Durch Ausgründungen und andere Effekte sollen moderne Firmen mit rund zweitausend hochwertigen Arbeitsplätzen entstehen. 

    Das klingt faszinierend. Aber wie passt all das zu Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands mit nur 57.000 Einwohnern, direkt an der polnischen Grenze? 
    Betrachtet man Europa als Ganzes, liegt das schöne Görlitz im Zentrum. In der Gegend findet sich viel wissenschaftlich-technische Kompetenz: mit der Hochschule Zittau-Görlitz, der renommierten Technischen Universität Dresden und einer langen Firmentradition in der Feinmechanik und Mikroelektronik. Von größter Bedeutung ist für uns der besonders gute Granit in der Lausitz. Nahe Görlitz, im Kreis Bautzen, planen wir ein weltweit einzigartiges Labor für astrophysikalische und kommerzielle Technikentwicklungen. Es wird zweihundert Meter unter der Erde liegen und etwa so groß wie eine U-Bahn-Station sein. Seinen Namen Low Seismic Lab verdankt es dem Lausitzer Granitstock. Der dämpft die seismischen Wellen, die den Erdboden ständig durchlaufen, hier herrscht also eine besondere geologische Ruhe, fast ohne seismische Störfaktoren. Für empfindiche Messungen, etwa von Gravitationswellen, ist das von unschätzbarem Vorteil. Das Labor eignet sich auch für die Entwicklung von Quantencomputern und andere High-Tech-Anwendungen. Wenn wir Glück haben, können wir uns demnächst am milliardenschweren Einstein-Teleskop beteiligen, dem empfindlichsten Gravitationswellen-Observatorium aller Zeiten. 

    Was sagen die Menschen vor Ort zum DZA und seinen großen Plänen?
    Inzwischen bekommen wir viel Zuspruch. Aber ganz am Anfang gab es auch Gegenwind. Eine Bürgerinitiative in der Lausitz befürchtete eine Grundwasserabsenkung durch die Bauarbeiten und die Errichtung eines Endlagers für radioaktive Abfälle. Wir haben dann im Sommer 2022, also noch vor dem Zuschlag für unser Projekt, ein Grillfest für alle veranstaltet, um ins Gespräch zu kommen. Wie sich herausstellte, kam der Widerstand von einer kleinen, aber lauten Minderheit, alle anderen waren eher neugierig und aufgeschlossen. Als ich später die Gitarre in die Hand nahm und mich zu einer musikalischen Lebensreise von Oberammergau über München, Potsdam, Hawaii, Madrid bis Görlitz begleitete, war das Eis gebrochen. Wir machen das Grillfest jetzt jedes Jahr. Für diesen Sommer habe ich versprochen, ein Lied auf Sorbisch zu singen. Da muss ich noch kräftig üben.

    Grill und Infoabend in Cunnewitz © Paul Glaser

    © Paul Glaser

    Das Gitarren-Solo des DZA-Chefs, hier im August 2023 in Cunnewitz, ist ein fester Programmpunkt der Grill- und Infoabende für die Bevölkerung.

     

    Ein Astrophysiker, der sich mit der Gitarre auf die Bühne stellt und singt – das hat man nicht alle Tage. Wie kommt’s?
    In meiner Jugend war ich Mitglied der Münchner Rockband „Saffran“, die eine Platte veröffentlichte und es immerhin auf die Titelseite der Bravo schaffte. Später wollte ich Tontechniker werden, entschied mich dann aber doch für ein Physikstudium. Dass ich für die Astrophysik Feuer gefangen habe, verdanke ich zwei begnadeten akademischen Lehrern, Joachim Trümper und Rudolf Kippenhahn. Beide waren Max-Planck-Direktoren, das wollte ich auch werden. Das hat geklappt und daraus entwickelte sich alles Weitere. 

    Sie haben den Gründungsauftrag für das DZA in einem Alter übernommen, in dem andere längst in Pension sind. Was hat Sie gereizt?
    Die Riesenchance – so etwas gibt es nur einmal im Leben. Große Institute mit bis zu tausend Mitarbeitern habe ich auch vorher schon geleitet, aber ein Zentrum von Null auf Hundert zu bringen, das ist neu und reizt mich sehr. Endlich wird wahr, was wir als Fachcommunity seit Jahrzehnten in unseren Denkschriften fordern: ein nationales Zentrum für Astrophysik. 

    Vor Kurzem wurden Sie 70. Ist Ruhestand für Sie überhaupt eine Option?
    Erst einmal will ich das DZA zum Laufen bringen und helfen, meine Nachfolge zu regeln. Das wird bestimmt noch ein paar Jahre dauern. Danach will ich mich zur Ruhe setzen, aber nicht untätig sein. Mein 2005 erschienenes Sachbuch „Das Schicksal des Universums“ braucht dringend eine Fortsetzung. Die will ich schreiben und mich musikalisch weiterentwickeln – Kontrabass lernen, das könnte mir gefallen. 

    Bei der 200-Jahr-Feier der GDNÄ in Leipzig haben Sie einen Vortrag über Schwarze Löcher und das Schicksal des Universums gehalten. Wie haben Sie das Jubiläum in Erinnerung?
    Als ein Wissenschaftsfest in elegantem Ambiente und mit reichhaltigem Programm. Es war eine Leistungsschau der Forschung vor eindrucksvollem Publikum. 

    Wenn wir uns das Wissenschaftssystem als Orchester vorstellen: Welchen Part übernimmt die GDNÄ?
    Ich stelle mir die GDNÄ vielleicht als die Bratsche vor. Ihr warmer, dunkler Klang bildet eine Art Brücke von der Ersten und Zweiten Geige zu den tiefen Streichinstrumenten Cello und Kontrabass. Einige der allergrößten Komponisten waren Bratscher, zum Beispiel Bach, Beethoven und Mozart.

    Günther Hasinger © Paul Glaser

    © Paul Glaser

    Prof. Dr. Günther Hasinger, Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums für Astrophysik.

    Zur Person

    Günther Hasinger kam am 28. April 1954 in Oberammergau zur Welt. Er studierte Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; dort forschte er auch für seine Promotion (1984) und seine Habilitation (1995). Von 1994 bis 2001 war er Direktor am Astrophysikalischen Institut in Potsdam und Professor an der dortigen Universität. 2001 wurde er zum Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Extraterrestrische Physik in Garching berufen; im Jahr 2008 übernahm er die wissenschaftliche Leitung des MPI für Plasmaphysik.  2011 ging er als Direktor an das Institute for Astronomy der University of Hawaii at Manoa und wechselte 2018 nach Madrid, um dort bis Anfang 2023 als Wissenschaftsdirektor der Europäischen Raumfahrtagentur ESA zu arbeiten. Anschließend kehrte er nach Deutschland zurück. Seit April 2023 ist er designierter Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums für Astrophysik, gleichzeitig Exzellenzprofessor an der TU Dresden und leitender Wissenschaftler am DESY.

    In seiner Forschung konzentriert sich Hasinger auf die Entwicklung entfernter aktiver Galaxien und die Rolle Schwarzer Löcher bei deren Entstehung. Er gilt als einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Röntgenastronomie.

    Günther Hasinger erhielt mehrere Preise, darunter 2005 den Leibniz-Preis der DFG. Er ist Mitglied der Leopoldina und weiterer Wissenschaftsakademien. Sein Sachbuch „Das Schicksal des Universums“ wurde 2008 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt.

    DZA Außenraumperspektive © Paul Glaser

    © Paul Glaser

    Architektonische Vision: So soll der Campus Görlitz in einigen Jahren aussehen.

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    Thomas Mettenleiter: „Danach konnte mich nichts mehr schrecken“

    „Danach konnte mich nichts mehr schrecken“

    BSE, Vogelgrippe, Corona: Wie der renommierte Virologe Thomas Mettenleiter zur Bewältigung großer Seuchen beigetragen hat, was ihn 27 Jahre auf der Ostseeinsel Riems hielt und was sein Publikum bei der GDNÄ-Versammlung 2024 erwartet.

    Herr Professor Mettenleiter, als langjähriger Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, hatten Sie es mit weltbewegenden Seuchen zu tun, denken wir nur an die BSE-Krise, an Vogelgrippe und Corona-Pandemie. Welche Herausforderung war die größte? 
    Für mich persönlich ganz eindeutig die BSE-Krise. Danach konnte mich nichts mehr schrecken. Ich war noch relativ neu im Amt, als Ende November 2000 das erste in Deutschland geborene und aufgewachsene Rind positiv getestet wurde. Die Aufregung war riesengroß. Wir wussten damals nur wenig über die auslösenden Prionen, sollten aber möglichst sofort kompetent Auskunft geben. Schon einige Zeit vorher war eine informelle Expertenkommission unter meinem Vorsitz eingesetzt worden. Im April 2000 empfahlen wir der Bundesregierung, sich auf den ersten Fall von einheimischer BSE vorzubereiten. Das ist dann leider nicht geschehen.

    Dennoch konnte die BSE-Krise rasch beendet werden. Wie ist das gelungen?
    Entscheidend waren das auf EU-Ebene erlassene Verbot zur Verfütterung etwa von Tiermehl, die Herausnahme von Risikomaterial aus der Lebensmittelkette und die umfangreiche Testung der geschlachteten Rinder abhängig vom Alter. Danach gingen die Fallzahlen rasch zurück. In Deutschland infizierten sich nach unserer Kenntnis nur noch zwei Tiere, die im März und Mai 2001 zur Welt gekommen waren. Es war eine äußerst turbulente Zeit, in der mit Andrea Fischer und Karl-Heinz Funke gleich zwei Bundesminister zurücktraten. In diesen Jahren habe ich gelernt, wie wichtig die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Medien ist. Zum Glück wurden die von der Wissenschaft vorgeschlagenen Maßnahmen damals schnell umgesetzt und zeigten Erfolg. Insofern ist die BSE-Krise ein gelungenes Beispiel für eine wissenschaftsbasierte Seuchenbekämpfung.

    Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

    © Friedrich-Loeffler-Institut

    Eine Wissenschaftlerin arbeitet im Vollschutzanzug im Labor der höchsten Biosicherheitsstufe 4 Zoonosen. Hier wird zu Erregern wie Ebola- und Nipah-Viren geforscht. Der Anzug ist über ein Ventil an die Luftversorgung angeschlossen, die ständig Luft zuführt. Dadurch wird auch der Anzug aufgeblasen, selbst bei einem kleinen Loch würde über den austretenden Luftstrom nichts nach innen gelangen. Die Wissenschaftlerin kontrolliert Zellkulturen an einem Bildschirm.

    Wie gefragt war Ihre Expertise in der Corona-Pandemie?
    In den drei COVID-19-Jahren standen andere Institute im Zentrum der Aufmerksamkeit von Politik und Medien. Allerdings wurden uns am FLI gleich zu Beginn der Pandemie essenzielle Fragen gestellt: Sind landwirtschaftliche Nutztiere in Deutschland empfänglich für SARS-CoV-2? Ist damit unsere Nahrungsmittelversorgung gefährdet und stellen Nutztiere ein potenzielles Reservoir dar? Dank unserer modernen Forschungsinfrastruktur auf der Insel Riems mit Hochsicherheits-Isolierställen konnten wir sofort testen, ob zum Beispiel Rinder, Schweine und Hühner empfänglich für den Erreger sind. Zusätzlich haben wir damals die Interaktion des Erregers mit anderen Tieren wie Mäusen, Goldhamstern, Flughunden, Frettchen und Marderhunden untersucht, um mögliche Reservoire oder Modelle für die menschliche Infektion zu finden und zu charakterisieren.

    Was haben Sie herausgefunden?
    Rinder, Schweine und Hühner waren nicht oder nur ganz geringgradig infizierbar und gaben den Erreger auch nicht weiter. Insofern bestand also weder eine Gefährdung hinsichtlich der Nahrungsversorgung noch mit Blick auf die Entstehung eines neuen Reservoirs. Flughunde, Frettchen und Marderhunde hingegen erwiesen sich als empfänglich für den Erreger, erkrankten aber nicht und waren trotzdem in der Lage, den Erreger effizient weiterzugeben. Das passt zu dem, was wir über Reservoirtiere und Brückenwirte wissen. Hamster und spezielle genetisch veränderte Mäuse erkrankten schwer. Insbesondere Frettchen bildeten die weitgehend leichte, nur die oberen Atemwege betreffende humane Infektion ab, während Goldhamster und diese Mäuse das klinische Bild einer schweren COVID-19 zeigten.

    Derzeit wird viel über die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Corona-Krise diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
    Wir sollten das Geschehene auf jeden Fall objektiv analysieren, um daraus für die Zukunft zu lernen. Gerade in der heißen Phase mussten viele Entscheidungen schnell und unter unsicheren Bedingungen getroffen werden – das sollte immer mitbedacht werden. Wichtig für die Zukunft ist eine einheitliche Politik für das ganze Land, den föderalen Flickenteppich sollten wir in solchen Situationen vermeiden. Die Corona-Jahre haben aber auch gezeigt, wie immens wichtig Grundlagenforschung und moderne Forschungsinfrastrukturen sind. Ihnen verdanken wir die hochwirksamen mRNA-Impfstoffe, an denen ja schon lange Zeit geforscht worden war, sowie zahlreiche Erkenntnisse, die uns halfen, die Krise zu überstehen. Damit das auch in Zukunft gelingt, sind ausreichende Fördermittel nötig – nicht nur für den Aufbau, sondern auch für den Unterhalt der Forschungseinrichtungen, für Personal und Ausbildung.

    Die nächste Pandemie kommt bestimmt, heißt es oft. Aus welcher Ecke drohen neue Gefahren?
    Wir sind derzeit in einer interpandemischen Phase, so viel ist klar. Doch von wo aus welche Gefahren drohen, kann niemand genau sagen. Was wir wissen, ist, dass drei Viertel der neu auftretenden Infektionen des Menschen aus dem Tierreich kommen und dass Erreger wie das Coronavirus weiterhin zwischen Tier und Mensch hin- und herspringen. Nie aus den Augen verlieren dürfen wir die Influenzaviren: Sie sind hochvariabel und passen sich schnell an neue Gegebenheiten an. Zum Glück gibt es ein weltumspannendes Beobachtungssystem für Grippeviren unter der Ägide der Weltgesundheitsorganisation WHO. Etwas Ähnliches brauchen wir auch zur Überwachung von Tierpopulationen, um Pandemiegefahren schnell zu entdecken.  Helfen könnte hier ein internationales Abkommen zur Pandemic Prevention, Preparedness and Response. Darüber wird derzeit  unter Leitung der WHO verhandelt und ich bin immer noch vorsichtig optimistisch, dass die Mitgliedstaaten sich darauf einigen können. Das wäre auch ganz im Sinne des One-Health-Konzepts, das sich immer mehr durchsetzt und das den Menschen als Teil des Tierreichs in einer gemeinsamen Umwelt versteht.

    Eine wichtige Rolle spielt dabei die Art der Tierhaltung, um die es auch am Friedrich-Loeffler-Institut geht. Welche Trends sehen Sie in diesem Bereich?
    Der Blick ändert sich, das Wohlergehen des Tieres gewinnt an Bedeutung. In der Nutztierhaltung rückt die Qualität gegenüber der Quantität in den Vordergrund. In welchem Umfang und in welchem Zeitraum dies geschieht, ist auch eine Frage der Finanzierung und  letztlich eine politische Entscheidung. Das gilt ebenso für ein anderes Thema: die stille Pandemie der Antibiotika-Resistenzen. Begünstigt wird sie durch den übermäßigen Einsatz von Antibiotika in allen Bereichen. In Deutschland ist ihr Einsatz zur Wachstumsförderung in der Tierhaltung verboten, aber in vielen Ländern ist diese Praxis noch üblich. Es geht aber nicht nur um Tiere, auch der Einsatz beim Menschen muss zielgerichteter und mit mehr Zurückhaltung erfolgen. 

    Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

    © Friedrich-Loeffler-Institut

    Am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) gibt es zwei Tierstalleinheiten der Biosicherheitsstufe 4 Zoonosen, auch hier sind Vollschutzanzüge Vorschrift. In Europa hat derzeit nur das FLI solche Tierställe, weltweit sind es eine Handvoll, etwa in Kanada und Australien

     

    Sie sind in der Wendezeit als West-Professor nach Ostdeutschland gegangen – und dort geblieben. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
    Anfangs ist man mir mit interessierter Distanz, aber auch mit Neugierde und hohen Erwartungen begegnet. Die Distanz hatte damit zu tun, dass ich anders als die Institutsleiter vor mir kein Tierarzt bin, sondern Biologe. Außerdem war ich noch recht jung, als ich 1994 mit meiner Tübinger Arbeitsgruppe auf die Insel Riems kam. Im Zuge der Wende waren die Institute von 850 auf 162 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschrumpft. Die Infrastruktur war marode. In meiner vielleicht etwas jugendlichen Unbekümmertheit hat mich das aber nicht abgeschreckt, sondern herausgefordert. Was mir sehr half, waren die zahlreichen motivierten Kolleginnen und Kollegen auf allen Ebenen des Instituts, die viel Fachwissen und Erfahrung besaßen. Es war zwar ein längerer Weg, aber heute spielt das Institut wissenschaftlich und infrastrukturell in der Champions League des Fachgebiets mit. Seine Entwicklung zählt  sicher zu den ostdeutschen Erfolgsgeschichten, wie sie meine Greifswalder Kollegen Michael Hecker und Bärbel Friedrich in ihrem Buch und im Interview auf dieser Website schildern. Für mich ist das Institut ein Lebenswerk und ich bin glücklich, das Privileg bekommen zu haben, die Tradition des Mitentdeckers der Viren, Friedrich Loeffler, fortführen zu können.   

    Ihr großes Forschungsthema, die Tierviren, beschäftigt Sie seit Langem. Wie kamen Sie auf das Thema?
    Der Auslöser war Hoimar v. Ditfurths Geschichte der Evolution „Am Anfang war der Wasserstoff“. Meine Eltern schenkten mir das Buch 1972 und ich habe es mit großer Begeisterung gelesen. Besonders fasziniert war ich von einer Abbildung, die Bakteriophagen darstellt, also Viren, die Bakterien befallen. Das war der Keim für meine Karriere – und begeisterter Virologe bin ich immer noch.

    Das klingt nicht nach Ruhestand, in dem Sie sich offiziell seit fast einem Jahr befinden.
    Stimmt, ich bin immer noch gut beschäftigt, auch wenn ich nicht mehr bis zu 14 Stunden im Institut verbringe. Aber alles in allem habe ich doch wieder fast einen Vollzeitjob und manchmal wundere ich mich, wie das früher sozusagen nebenbei ging. Eine neue Erfahrung für mich sind Vorträge vor Schülern über Virologie und One Health, zum Beispiel letztes Jahr in Göttingen und in den nächsten Wochen in Greifswald und im oberschwäbischen Sigmaringen, meiner alten Heimat. In der Hamburger Wissenschaftsakademie leite ich eine Arbeitsgruppe zum Thema One Health und in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina stehe ich der Sektion Veterinärmedizin vor. Als Wissenschaftsberater unterstütze ich mehrere UN-Organisationen und die Weltorganisation für Tiergesundheit im One Health High-Level Expert Panel. Dazu kommen weiterhin die Hochschullehre und Fachvorträge zu meinen Kernthemen.

    Bei der GDNÄ-Versammlung 2024 in Potsdam werden Sie einen Vortrag über Klimawandel und Infektionskrankheiten halten. Verraten Sie uns ein paar Details?
    Ich werde das One-Health-Konzept näher vorstellen, auch mit seiner Geschichte, denn brandneu ist es keineswegs. Es wird zudem um Krankheitserreger, insbesondere Viren, gehen, die sich durch den Klimawandel weiter ausbreiten. Auch von sogenannten Vektoren, das sind Infektionsüberträger wie zum Beispiel Stechmücken und Zecken, die von klimatischen Änderungen beeinflusst werden, wird die Rede sein. Die ganze Entwicklung hat eine unheimliche Dynamik und die versuche ich vor Augen zu führen.

    Marion Merklein © FAU

    © Friedrich-Loeffler-Institut

    Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Thomas Mettenleiter war bis 2023 Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit.

    Zur Person

    Thomas Christoph Mettenleiter ist Virologe und Molekularbiologe. Von 1977 bis 1982 studierte er Biologie in Tübingen und promovierte über Herpesviren in Schweinen. Nach einem Forschungsaufenthalt in Nashville, USA, habilitierte er sich an der Universität Tübingen für das Fachgebiet Virologie. Nach der Wende ging er an das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit (FLI) auf der Insel Riems. Dort leitete er von 1994 bis 2019 das Institut für Molekulare Virologie und Zellbiologie. 1996 übernahm er die Leitung des gesamten FLI. 1997 wurde er zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Greifswald ernannt, 2019 zum Honorarprofessor an der Universität Rostock. Nach 27 Jahren im Präsidentenamt trat er im Juni 2023 in den Ruhestand.

    Mettenleiters Forschungsgebiet sind Virusinfektionen von Nutztieren. Seine Arbeiten trugen wesentlich zur ersten Entwicklung von gentechnisch veränderten Lebendimpfstoffen und zur wirksamen Bekämpfung und Ausrottung einer hochansteckenden, virusbedingten Seuche, der Aujeszkyschen Krankheit bei Schweinen bei.

    Für seine Leistungen wurde Thomas C. Mettenleiter vielfach geehrt. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Königlich Belgischen Akademie für Medizin. Für sein Wirken im Bereich der Tierseuchenforschung wurde er unter anderem im Mai 2023 mit der Goldmedaille der Weltorganisation für Tiergesundheit WOAH und im Januar 2024 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

    Marion Merklein © FAU

    © Friedrich-Loeffler-Institut

    Das Gelände des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Ostsee-Insel Riems. Neben dem Institut gibt es noch ein kleines Wohngebiet auf der Insel.

    Zum FLI

    Das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit (FLI), ist eine selbstständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Neben dem Hauptsitz auf der Insel Riems im Greifswalder Bodden gibt es vier weitere Standorte in Braunschweig, Celle, Jena und Mariensee/Mecklenhorst. Insgesamt zwölf Fachinstitute mit rund 800 Beschäftigten widmen sich sowohl grundlagen- als auch praxisorientierten Themen. 

    Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Gesundheit und das Wohlbefinden landwirtschaftlicher Nutztiere und der Schutz des Menschen vor Zoonosen, also zwischen Tier und Mensch übertragbaren Infektionen. Zu diesem Zweck entwickelt das FLI Methoden zur besseren und schnelleren Diagnose sowie Grundlagen für moderne Präventions- und Bekämpfungsstrategien. Zur Verbesserung des Wohlbefindens landwirtschaftlicher Nutztiere und im Interesse qualitativ hochwertiger Lebensmittel tierischer Herkunft werden am FLI tierschutzgerechte Haltungssysteme konzipiert und erprobt. Wichtige Ziele sind der Erhalt der genetischen Vielfalt bei Nutztieren und die effiziente Verwendung von Futtermitteln.

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    Michael Hecker und Bärbel Friedrich: „Es ist eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte“

    „Es ist eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte“

    Er forschte lange in der DDR, sie in der BRD: In ihrem jüngst erschienenen Buch widerlegen die Mikrobiologen Michael Hecker und Bärbel Friedrich die These von der Kolonisierung der Wissenschaft in Ostdeutschland durch den Westen.

    Es ist 35 Jahre her, doch an den 9. November 1989 erinnern sich viele Menschen noch genau. Wie haben Sie, Frau Professorin Friedrich, Herr Professor Hecker, das Ereignis erlebt?
    Friedrich: Ich war in Berlin und habe die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Am nächsten Tag nahm ich mit meiner Arbeitsgruppe an einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus teil. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, hieß es da – die Stimmung war ergreifend. Wir hatten das Gefühl, direkt am Puls der Geschichte zu sein.
    Hecker: Ich kam aus Bayreuth, saß im Zug nach Greifswald und wusste von nichts. Erst zu Hause erfuhr ich von meiner Frau, was in Berlin passiert war.

    Sie waren am Tag des Mauerfalls in der Bundesrepublik. Wie kam es dazu?
    Hecker: Das war wirklich ein kurioser Zufall. In den fast zwanzig Jahren als Forscher in der DDR durfte ich nur zwei Mal in den Westen reisen, um Vorträge zu halten und Kollegen zu treffen. Ich war ja nicht in der Partei und kein Reisekader. Das erste Mal war ich im Sommer 1989 in Hamburg. Das zweite Mal hatten Kollegen mich für Anfang November an die Universität Bayreuth eingeladen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet dann die Mauer fallen würde.

    Wie haben Sie die Tage nach dem 9. November in Erinnerung?
    Hecker: In meinem Institut waren Aufregung und Aufbruchstimmung riesengroß, die Situation war aufgeheizt. Niemand wusste, was jetzt kommt.
    Friedrich: Mir unvergesslich sind der Trabikorso auf dem Kudamm und eine Radtour über die Glienicker Brücke nach Potsdam. Der Kalte Krieg ist zu Ende, dachten wir, die Stimmung war euphorisch.

    Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

    © Peter Binder

    Zu Besuch in Greifswald: Anfang der 1990er-Jahre besuchten Bärbel Friedrich und ihr Mann Cornelius Friedrich das Labor von Michael Hecker (rechts). Im Gespräch erläuterte der Greifswalder Mikrobiologe unter anderem eine frühe Methode zur Trennung von Proteinen.

    Was passierte in der Wissenschaft?
    Friedrich: Wir haben sofort unsere ostdeutschen Kollegen eingeladen, zu Institutsbesuchen und zur Jahrestagung der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, VAAM. Sie fand im März 1990 zufällig in Berlin statt.
    Hecker: Als letzter Präsident der DDR-Gesellschaft für Mikrobiologie durfte ich bei der betreffenden VAAM-Tagung ein Grußwort halten, bei dem mir – ich war emotional höchst angespannt – mehrfach die Stimme versagte. Nur ein Jahr später wurde auf der Folgetagung   in Freiburg die Vereinigung beider Gesellschaften vollzogen. 

    Über die Wende in der Wissenschaft ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Was ist das Besondere an Ihrem neuen Buch?
    Hecker: Bei uns steht die Forschung an den Universitäten im Mittelpunkt, vor allem die Entwicklung in den Lebenswissenschaften. Unser Buch beschreibt, wie es gelang, die total abgehängten Lebenswissenschaften in Ostdeutschland überraschend schnell auf internationales Niveau zu bringen. Es ist viel Negatives über die allgemeine Entwicklung seit der Wende geschrieben worden. Wir stellen ein positives Beispiel vor, eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte. Auch diese verdient gehört werden.
    Friedrich:  Für uns ist die Wissenschaft ein Paradebeispiel für gelungenes Zusammenwachsen von Ost und West. Das ist eine der wichtigsten Aussagen unseres Buches. Aktuell ist die Diskussion über die Wissenschaft an ostdeutschen Universitäten in eine Schieflage geraten. Uns geht es darum, sie ins Lot zu bringen.   

    Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Thema zurückkommen, die drei Phasen skizzieren, die Sie in Ihrem Buch ausführlich beschreiben: die Jahre von 1965 bis zur Wiedervereinigung, die 1990er-Jahre als Transformationsphase und die Zeit der Konsolidierung von 2000 bis in die Gegenwart. Wie stand es um die DDR-Mikrobiologie vor 1989, Herr Hecker?
    Hecker: Wir saßen hinter der Mauer und blickten voller Neid in den Westen, wo die großen Entdeckungen in der Biologie gemacht wurden. Uns fehlten die Geräte dafür, das Know-how, das ganze Umfeld. Aber wir hatten hervorragende junge Leute, mit denen wir trotz der schlechten Bedingungen leidenschaftlich geforscht haben. Es gab viele interessante, stimmungsvolle Tagungen, an die ich mich gern erinnere. Zum Beispiel auf der Insel Hiddensee. Dort hatten wir im Sommer 1985 wegen der fehlenden Chemikalien die Gentechnik der DDR zu Grabe getragen und in einer Urne im Namen des Vaters, des Klones und des Heiligen Splicers am Strand beerdigt.
    Friedrich: Ich bin ein Kind der Achtundsechziger und habe die Studentenunruhen miterlebt. Göttingen war damals das Mekka der deutschen Mikrobiologie und ein Sprungbrett nach Amerika. Am MIT erlernte ich die neuesten Methoden der Molekularbiologie und erlebte ein offenes, gleichwohl kompetitives Umfeld. Als ich Ende 1976 nach Deutschland zurückkam, musste ich kämpfen: Es gab kaum Stellen für Nachwuchswissenschaftler und nur begrenzte Forschungsmittel. Der Wettbewerb war hart.
    Hecker: Das haben wir damals gar nicht so mitbekommen. Die sitzen im Paradies und wir draußen vor der Tür – so dachten wir.
    Friedrich: Ich hatte dann schließlich Glück und entschied mich für eine Professur an der Freien Universität Berlin. Dort begann ich 1985 mit dem Aufbau einer neuen naturwissenschaftlich ausgerichteten Mikrobiologie. Die Studenten waren sehr motiviert, es war eine gute, spannende Zeit. 

    Mit dem Mauerfall begann die Transformationsphase. Wie kam es, Herr Hecker, dass Sie Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Greifswald wurden?
    Hecker: Man hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen. Eigentlich wollte ich hinaus in die Welt, um Anschluss an die moderne Forschung zu gewinnen. Stattdessen musste ich helfen, unseren Universitätsbetrieb nach bundesdeutschem Muster umzustrukturieren. Es waren vier anstrengende Jahre. Die Mehrheit der Professoren wurde nicht übernommen, manche aus Altersgründen, andere wegen fachlicher Defizite oder weil die Erkenntnisse der Ehrenkommission dagegen sprachen. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften gab es viele Entlassungen. Bei der anschließenden Neubesetzung von Stellen ähnelte das Bild in Greifswald dem an den meisten ostdeutschen Universitäten: Etwa zwei Drittel der Neuberufenen waren Ostdeutsche, darunter auch habilitierte Nachwuchswissenschaftler. In den Geisteswissenschaften waren es deutlich weniger. Hätten wir mehr qualifizierte Bewerber aus Ostdeutschland gehabt, wäre der Anteil wahrscheinlich noch höher ausgefallen. Dennoch war es dringend notwendig, dass Kollegen aus dem Westen mit ihren internationalen Erfahrungen zu uns kamen. Von einer Kolonisierung des Ostens durch den Westen kann in der Bilanz keine Rede sein.

    Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

    © Gestaltung: Sabine Schade

    Wachsende Reputation: Nach der Wende wurden die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe Hecker immer häufiger in internationalen Publikationen zitiert.

     

    In dem Bestseller des Leipziger Literatur-Professors Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ klingt das aber ganz anders.
    Hecker: Herr Oschmann spricht mit seinem Buch enttäuschte Ostdeutsche an, er will provozieren. Aber wenn es um die Wissenschaften geht, hat er nicht den Überblick. Er schreibt aus der Perspektive eines Geisteswissenschaftlers. Auf die Lebenswissenschaften und die Medizin treffen die pauschalisierenden Aussagen nicht zu. Er schreibt beispielsweise, dass man Ostdeutsche bei den Sekretärinnen oder Technikern, aber kaum bei den Professoren findet.  Er habe seine ostdeutsche Identität leugnen müssen, um im Westen als Wissenschaftler akzeptiert zu werden, heißt es in dem Buch – so etwas ist mir niemals passiert. Unfug ist die Behauptung, der Osten sei im Wissenschaftsbereich vom Westen überrollt worden. Die Zahlen aus dem DFG-Förderatlas belegen vielmehr, dass die in Ostdeutschland eingesetzten Fördermittel ganz und gar den Aufwendungen für westdeutsche Universitäten entsprechen.

    Frau Friedrich, Sie haben die Wendezeit in Berlin erlebt, erst im Westteil der Stadt, dann im Osten. Wie erinnern Sie diese Jahre?
    Friedrich: Das Geld war in Anbetracht der Herausforderungen durch die Vereinigung beider Stadtteile knapp, der Zeitdruck groß. Es gab dramatische Kürzungen, auch die Westberliner Universitäten mussten Federn lassen. An der Humboldt-Universität wurden bis 2010 von rund 500 Professorenstellen etwa 350 Stellen nach Ausschreibung neu besetzt – immerhin 220 der neuen Stelleninhaber stammten aus dem Osten.

    Oft heißt es, das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem sei eins zu eins auf den Osten übertragen worden. Stimmt das?
    Friedrich: Anfangs war es so, es musste ja alles sehr schnell gehen. Aber es gab im Westen auch schon vor der Wiedervereinigung einen großen Reformstau. In den 1990er-Jahren kam es dann endlich zu Reformen, auch infolge des Bologna-Prozesses. Gegen Ende der Dekade floss mehr Geld ins Wissenschaftssystem und die DFG konnte die Vorläufer der Exzellenzinitiative entwickeln, die DFG-Forschungszentren, und später dann die Exzellenzcluster. Ich war damals Vizepräsidentin der DFG und habe dort viel Aufgeschlossenheit für die Ostuniversitäten erlebt. Auch im Wissenschaftsrat und in Forschungsausschüssen des Bundes war die Hilfsbereitschaft gegenüber Ostdeutschland groß. Rückblickend betrachtet gab es in dieser Phase große Veränderungen im gesamtdeutschen Wissenschaftssystem.

    Bitte skizzieren Sie kurz die Entwicklung in Ihren Bereichen seit 2000, in der Phase der Konsolidierung.
    Hecker Die jungen Wissenschaftler an meinem Institut, die unmittelbar nach 1990 mit Mitteln der DFG in die Welt ausschwärmten, brachten endlich die uns fehlenden Expertisen nach Greifswald. Mit dem neuen Wissen und in gutem Miteinander mit Mikrobiologen aus ganz Europa – Bärbel Friedrich, Jörg Hacker und viele andere eingeschlossen – haben wir ein Referenzlabor für mikrobielle Proteomics aufbauen können.  So konnten die im Osten über viele Jahre abgehängten Universitäten sehr zügig nach internationalen  Standards arbeiten.
    Friedrich: Auch für meine Arbeitsgruppe war diese Zusammenarbeit äußerst fruchtbar. Wir waren in große Netzwerke zur Genomforschung an Mikroorganismen eingebunden. Es kam zu vielen gemeinsamen Publikationen. In Greifswald hat das Krupp-Wissenschaftskolleg die Ost-West-Zusammenarbeit tatkräftig unterstützt. Die Gründung des Kollegs war im Jahr 2000 von der Essener Krupp-Stiftung initiiert worden. Ein besonderes Ereignis war der Aufbau eines Doktorandenkollegs zusammen mit Israel.

    Im aktuellen Exzellenzwettbewerb haben die ostdeutschen Universitäten deutlich aufgeholt. Zehn Erstanträge für Exzellenzcluster wurden positiv bewertet – so viele wie nie zuvor. Braucht es eine Generation, um in der Oberliga mithalten zu können?
    Hecker: In der Breite mag das so sein. Aber mancherorts ging es deutlich schneller. Dresden ist schon seit der Wende ein wissenschaftlicher Leuchtturm. Auch Jena mit seinen hervorragenden außeruniversitären Instituten holte zügig auf. Beide Standorte behaupten sich schon länger sehr gut im Exzellenzwettbewerb. Dabei ist zu betonen, dass die Forschungsprojekte anfangs meist von neu Berufenen aus den alten Ländern geprägt wurden. Inzwischen ist jedoch eine neue Generation herangewachsen, der die so häufig strapazierte Ost-West-Debatte fremd ist. Viele von ihnen konnten sich nach der Promotion in renommierten Laboratorien weltweit fachlich profilieren. Sie erhalten hochattraktive Stellenangebote und ihre Lebensläufe ähneln denen im Westen. So löst sich das Thema Ost-West mit der jungen Generation zunehmend auf.

    In diesem Jahr stehen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an. Die AfD dürfte in allen drei Ländern gut abschneiden. Welche Folgen hätte das für die Wissenschaft?
    Friedrich: Es könnte katastrophal werden. Denn mit einem starken Einfluss der AfD würden Freiheit und Internationalität der Wissenschaft stark eingeschränkt werden – und gerade sie sind die Grundlagen für erfolgreiche Forschung. Die AfD leugnet den Klimawandel und die Corona-Fakten. Mit einem modernen, evidenzbasierten wissenschaftlichen Weltbild ist das nicht vereinbar.
    Hecker: Ich sehe das ähnlich. Ein Verbot der Partei würde nicht viel bringen. Wir müssen der AfD argumentativ begegnen und die Menschen von der Notwendigkeit und vom Nutzen einer freien Wissenschaft überzeugen.

    Marion Merklein © FAU

    © Peter Binder

    Prof. Dr. Michael Hecker

    Marion Merklein © FAU

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    Prof. Dr. Bärbel Friedrich

    Zu den Personen

    Bärbel Friedrich kam 1945 in Göttingen zur Welt. Nach ihrer Promotion in Mikrobiologie an der dortigen Universität ging sie für zwei Jahre als Postdoktorandin ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) und habilitierte sich anschließend in Göttingen. 1985 wurde sie Professorin für Mikrobiologie an der Freien Universität Berlin; 1994 wechselte sie an die Humboldt-Universität, wo sie 2013 emeritiert wurde. Ihre Forschung konzentrierte sich auf physiologische und molekularbiologische Studien von Bakterien, die mit Wasserstoff als Energiequelle wachsen und Kohlendioxid zur Synthese von Zellsubstanz nutzen, was in mehr als 200 Originalarbeiten dokumentiert ist. Von 2008 bis 2018 war Bärbel Friedrich Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs, das die Universität Greifwald und den Wissenschaftsstandort insgesamt fördert. Sie war zudem Vizepräsidentin der Leopoldina (2005 bis 2015), Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1997 bis 2003) und Mitglied des Wissenschaftsrats (1997 bis 2003) Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, darunter den Arthur-Burkhardt-Preis (2013), das Bundesverdienstkreuz (2013), die Verdienstmedaille der Leopoldina (2016), die Mitgliedschaft im Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2021) und die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald (2022). Von 2001 bis 2004 war Bärbel Friedrich Mitglied des GDNÄ-Vorstands.

    Michael Hecker wurde 1946 im erzgebirgischen Annaberg geboren. Zum Biologiestudium ging er an die Universität Greifswald, wo er 1973 mit einer Arbeit zur Biochemie der Pflanzen promoviert wurde. In den Folgejahren widmete er sich vor allem der Erforschung des Proteoms, der Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, einem Gewebe oder einer Zelle. Von 1986 bis 2014 war Michael Hecker Professor für Mikrobiologie und von 1990 bis 2013 auch Direktor des dortigen Instituts für Mikrobiologie. Als Dekan trug er von 1990 bis 1994 maßgeblich zum Neuaufbau der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät bei. Von 1997 bis 2001 war er Präsident bzw. Past-Präsident der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, dem größten Zusammenschluss mikrobiologisch orientierter Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum. Michael Hecker erhielt mehrere Wissenschaftspreise und 2023 die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen. Er ist gewähltes Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Akademien, darunter der American Academy of Microbiology, der European Academy of Microbiology, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

    Marion Merklein © FAU

    © mdv

    Titelseite des neuen Buchs „Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland“. Ernst-Ludwig Winnacker, DFG-Präsident von 1998 bis 2006, hat das Vor- und Nachwort verfasst.  

    Weitere Informationen

    Buch

    Michael Hecker, Bärbel Friedrich: Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte in Ost-West-Perspektive (mit Vor- und Nachwort von Ernst-Ludwig Winnacker), 345 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023