„Es ist eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte“

Er forschte lange in der DDR, sie in der BRD: In ihrem jüngst erschienenen Buch widerlegen die Mikrobiologen Michael Hecker und Bärbel Friedrich die These von der Kolonisierung der Wissenschaft in Ostdeutschland durch den Westen.

Es ist 35 Jahre her, doch an den 9. November 1989 erinnern sich viele Menschen noch genau. Wie haben Sie, Frau Professorin Friedrich, Herr Professor Hecker, das Ereignis erlebt?
Friedrich: Ich war in Berlin und habe die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Am nächsten Tag nahm ich mit meiner Arbeitsgruppe an einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus teil. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, hieß es da – die Stimmung war ergreifend. Wir hatten das Gefühl, direkt am Puls der Geschichte zu sein.
Hecker: Ich kam aus Bayreuth, saß im Zug nach Greifswald und wusste von nichts. Erst zu Hause erfuhr ich von meiner Frau, was in Berlin passiert war.

Sie waren am Tag des Mauerfalls in der Bundesrepublik. Wie kam es dazu?
Hecker: Das war wirklich ein kurioser Zufall. In den fast zwanzig Jahren als Forscher in der DDR durfte ich nur zwei Mal in den Westen reisen, um Vorträge zu halten und Kollegen zu treffen. Ich war ja nicht in der Partei und kein Reisekader. Das erste Mal war ich im Sommer 1989 in Hamburg. Das zweite Mal hatten Kollegen mich für Anfang November an die Universität Bayreuth eingeladen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet dann die Mauer fallen würde.

Wie haben Sie die Tage nach dem 9. November in Erinnerung?
Hecker: In meinem Institut waren Aufregung und Aufbruchstimmung riesengroß, die Situation war aufgeheizt. Niemand wusste, was jetzt kommt.
Friedrich: Mir unvergesslich sind der Trabikorso auf dem Kudamm und eine Radtour über die Glienicker Brücke nach Potsdam. Der Kalte Krieg ist zu Ende, dachten wir, die Stimmung war euphorisch.

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

© Peter Binder

Zu Besuch in Greifswald: Anfang der 1990er-Jahre besuchten Bärbel Friedrich und ihr Mann Cornelius Friedrich das Labor von Michael Hecker (rechts). Im Gespräch erläuterte der Greifswalder Mikrobiologe unter anderem eine frühe Methode zur Trennung von Proteinen.

Was passierte in der Wissenschaft?
Friedrich: Wir haben sofort unsere ostdeutschen Kollegen eingeladen, zu Institutsbesuchen und zur Jahrestagung der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, VAAM. Sie fand im März 1990 zufällig in Berlin statt.
Hecker: Als letzter Präsident der DDR-Gesellschaft für Mikrobiologie durfte ich bei der betreffenden VAAM-Tagung ein Grußwort halten, bei dem mir – ich war emotional höchst angespannt – mehrfach die Stimme versagte. Nur ein Jahr später wurde auf der Folgetagung   in Freiburg die Vereinigung beider Gesellschaften vollzogen. 

Über die Wende in der Wissenschaft ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Was ist das Besondere an Ihrem neuen Buch?
Hecker: Bei uns steht die Forschung an den Universitäten im Mittelpunkt, vor allem die Entwicklung in den Lebenswissenschaften. Unser Buch beschreibt, wie es gelang, die total abgehängten Lebenswissenschaften in Ostdeutschland überraschend schnell auf internationales Niveau zu bringen. Es ist viel Negatives über die allgemeine Entwicklung seit der Wende geschrieben worden. Wir stellen ein positives Beispiel vor, eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte. Auch diese verdient gehört werden.
Friedrich:  Für uns ist die Wissenschaft ein Paradebeispiel für gelungenes Zusammenwachsen von Ost und West. Das ist eine der wichtigsten Aussagen unseres Buches. Aktuell ist die Diskussion über die Wissenschaft an ostdeutschen Universitäten in eine Schieflage geraten. Uns geht es darum, sie ins Lot zu bringen.   

Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Thema zurückkommen, die drei Phasen skizzieren, die Sie in Ihrem Buch ausführlich beschreiben: die Jahre von 1965 bis zur Wiedervereinigung, die 1990er-Jahre als Transformationsphase und die Zeit der Konsolidierung von 2000 bis in die Gegenwart. Wie stand es um die DDR-Mikrobiologie vor 1989, Herr Hecker?
Hecker: Wir saßen hinter der Mauer und blickten voller Neid in den Westen, wo die großen Entdeckungen in der Biologie gemacht wurden. Uns fehlten die Geräte dafür, das Know-how, das ganze Umfeld. Aber wir hatten hervorragende junge Leute, mit denen wir trotz der schlechten Bedingungen leidenschaftlich geforscht haben. Es gab viele interessante, stimmungsvolle Tagungen, an die ich mich gern erinnere. Zum Beispiel auf der Insel Hiddensee. Dort hatten wir im Sommer 1985 wegen der fehlenden Chemikalien die Gentechnik der DDR zu Grabe getragen und in einer Urne im Namen des Vaters, des Klones und des Heiligen Splicers am Strand beerdigt.
Friedrich: Ich bin ein Kind der Achtundsechziger und habe die Studentenunruhen miterlebt. Göttingen war damals das Mekka der deutschen Mikrobiologie und ein Sprungbrett nach Amerika. Am MIT erlernte ich die neuesten Methoden der Molekularbiologie und erlebte ein offenes, gleichwohl kompetitives Umfeld. Als ich Ende 1976 nach Deutschland zurückkam, musste ich kämpfen: Es gab kaum Stellen für Nachwuchswissenschaftler und nur begrenzte Forschungsmittel. Der Wettbewerb war hart.
Hecker: Das haben wir damals gar nicht so mitbekommen. Die sitzen im Paradies und wir draußen vor der Tür – so dachten wir.
Friedrich: Ich hatte dann schließlich Glück und entschied mich für eine Professur an der Freien Universität Berlin. Dort begann ich 1985 mit dem Aufbau einer neuen naturwissenschaftlich ausgerichteten Mikrobiologie. Die Studenten waren sehr motiviert, es war eine gute, spannende Zeit. 

Mit dem Mauerfall begann die Transformationsphase. Wie kam es, Herr Hecker, dass Sie Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Greifswald wurden?
Hecker: Man hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen. Eigentlich wollte ich hinaus in die Welt, um Anschluss an die moderne Forschung zu gewinnen. Stattdessen musste ich helfen, unseren Universitätsbetrieb nach bundesdeutschem Muster umzustrukturieren. Es waren vier anstrengende Jahre. Die Mehrheit der Professoren wurde nicht übernommen, manche aus Altersgründen, andere wegen fachlicher Defizite oder weil die Erkenntnisse der Ehrenkommission dagegen sprachen. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften gab es viele Entlassungen. Bei der anschließenden Neubesetzung von Stellen ähnelte das Bild in Greifswald dem an den meisten ostdeutschen Universitäten: Etwa zwei Drittel der Neuberufenen waren Ostdeutsche, darunter auch habilitierte Nachwuchswissenschaftler. In den Geisteswissenschaften waren es deutlich weniger. Hätten wir mehr qualifizierte Bewerber aus Ostdeutschland gehabt, wäre der Anteil wahrscheinlich noch höher ausgefallen. Dennoch war es dringend notwendig, dass Kollegen aus dem Westen mit ihren internationalen Erfahrungen zu uns kamen. Von einer Kolonisierung des Ostens durch den Westen kann in der Bilanz keine Rede sein.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Gestaltung: Sabine Schade

Wachsende Reputation: Nach der Wende wurden die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe Hecker immer häufiger in internationalen Publikationen zitiert.

 

In dem Bestseller des Leipziger Literatur-Professors Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ klingt das aber ganz anders.
Hecker: Herr Oschmann spricht mit seinem Buch enttäuschte Ostdeutsche an, er will provozieren. Aber wenn es um die Wissenschaften geht, hat er nicht den Überblick. Er schreibt aus der Perspektive eines Geisteswissenschaftlers. Auf die Lebenswissenschaften und die Medizin treffen die pauschalisierenden Aussagen nicht zu. Er schreibt beispielsweise, dass man Ostdeutsche bei den Sekretärinnen oder Technikern, aber kaum bei den Professoren findet.  Er habe seine ostdeutsche Identität leugnen müssen, um im Westen als Wissenschaftler akzeptiert zu werden, heißt es in dem Buch – so etwas ist mir niemals passiert. Unfug ist die Behauptung, der Osten sei im Wissenschaftsbereich vom Westen überrollt worden. Die Zahlen aus dem DFG-Förderatlas belegen vielmehr, dass die in Ostdeutschland eingesetzten Fördermittel ganz und gar den Aufwendungen für westdeutsche Universitäten entsprechen.

Frau Friedrich, Sie haben die Wendezeit in Berlin erlebt, erst im Westteil der Stadt, dann im Osten. Wie erinnern Sie diese Jahre?
Friedrich: Das Geld war in Anbetracht der Herausforderungen durch die Vereinigung beider Stadtteile knapp, der Zeitdruck groß. Es gab dramatische Kürzungen, auch die Westberliner Universitäten mussten Federn lassen. An der Humboldt-Universität wurden bis 2010 von rund 500 Professorenstellen etwa 350 Stellen nach Ausschreibung neu besetzt – immerhin 220 der neuen Stelleninhaber stammten aus dem Osten.

Oft heißt es, das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem sei eins zu eins auf den Osten übertragen worden. Stimmt das?
Friedrich: Anfangs war es so, es musste ja alles sehr schnell gehen. Aber es gab im Westen auch schon vor der Wiedervereinigung einen großen Reformstau. In den 1990er-Jahren kam es dann endlich zu Reformen, auch infolge des Bologna-Prozesses. Gegen Ende der Dekade floss mehr Geld ins Wissenschaftssystem und die DFG konnte die Vorläufer der Exzellenzinitiative entwickeln, die DFG-Forschungszentren, und später dann die Exzellenzcluster. Ich war damals Vizepräsidentin der DFG und habe dort viel Aufgeschlossenheit für die Ostuniversitäten erlebt. Auch im Wissenschaftsrat und in Forschungsausschüssen des Bundes war die Hilfsbereitschaft gegenüber Ostdeutschland groß. Rückblickend betrachtet gab es in dieser Phase große Veränderungen im gesamtdeutschen Wissenschaftssystem.

Bitte skizzieren Sie kurz die Entwicklung in Ihren Bereichen seit 2000, in der Phase der Konsolidierung.
Hecker Die jungen Wissenschaftler an meinem Institut, die unmittelbar nach 1990 mit Mitteln der DFG in die Welt ausschwärmten, brachten endlich die uns fehlenden Expertisen nach Greifswald. Mit dem neuen Wissen und in gutem Miteinander mit Mikrobiologen aus ganz Europa – Bärbel Friedrich, Jörg Hacker und viele andere eingeschlossen – haben wir ein Referenzlabor für mikrobielle Proteomics aufbauen können.  So konnten die im Osten über viele Jahre abgehängten Universitäten sehr zügig nach internationalen  Standards arbeiten.
Friedrich: Auch für meine Arbeitsgruppe war diese Zusammenarbeit äußerst fruchtbar. Wir waren in große Netzwerke zur Genomforschung an Mikroorganismen eingebunden. Es kam zu vielen gemeinsamen Publikationen. In Greifswald hat das Krupp-Wissenschaftskolleg die Ost-West-Zusammenarbeit tatkräftig unterstützt. Die Gründung des Kollegs war im Jahr 2000 von der Essener Krupp-Stiftung initiiert worden. Ein besonderes Ereignis war der Aufbau eines Doktorandenkollegs zusammen mit Israel.

Im aktuellen Exzellenzwettbewerb haben die ostdeutschen Universitäten deutlich aufgeholt. Zehn Erstanträge für Exzellenzcluster wurden positiv bewertet – so viele wie nie zuvor. Braucht es eine Generation, um in der Oberliga mithalten zu können?
Hecker: In der Breite mag das so sein. Aber mancherorts ging es deutlich schneller. Dresden ist schon seit der Wende ein wissenschaftlicher Leuchtturm. Auch Jena mit seinen hervorragenden außeruniversitären Instituten holte zügig auf. Beide Standorte behaupten sich schon länger sehr gut im Exzellenzwettbewerb. Dabei ist zu betonen, dass die Forschungsprojekte anfangs meist von neu Berufenen aus den alten Ländern geprägt wurden. Inzwischen ist jedoch eine neue Generation herangewachsen, der die so häufig strapazierte Ost-West-Debatte fremd ist. Viele von ihnen konnten sich nach der Promotion in renommierten Laboratorien weltweit fachlich profilieren. Sie erhalten hochattraktive Stellenangebote und ihre Lebensläufe ähneln denen im Westen. So löst sich das Thema Ost-West mit der jungen Generation zunehmend auf.

In diesem Jahr stehen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an. Die AfD dürfte in allen drei Ländern gut abschneiden. Welche Folgen hätte das für die Wissenschaft?
Friedrich: Es könnte katastrophal werden. Denn mit einem starken Einfluss der AfD würden Freiheit und Internationalität der Wissenschaft stark eingeschränkt werden – und gerade sie sind die Grundlagen für erfolgreiche Forschung. Die AfD leugnet den Klimawandel und die Corona-Fakten. Mit einem modernen, evidenzbasierten wissenschaftlichen Weltbild ist das nicht vereinbar.
Hecker: Ich sehe das ähnlich. Ein Verbot der Partei würde nicht viel bringen. Wir müssen der AfD argumentativ begegnen und die Menschen von der Notwendigkeit und vom Nutzen einer freien Wissenschaft überzeugen.

Marion Merklein © FAU

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Prof. Dr. Michael Hecker

Marion Merklein © FAU

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Prof. Dr. Bärbel Friedrich

Zu den Personen

Bärbel Friedrich kam 1945 in Göttingen zur Welt. Nach ihrer Promotion in Mikrobiologie an der dortigen Universität ging sie für zwei Jahre als Postdoktorandin ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) und habilitierte sich anschließend in Göttingen. 1985 wurde sie Professorin für Mikrobiologie an der Freien Universität Berlin; 1994 wechselte sie an die Humboldt-Universität, wo sie 2013 emeritiert wurde. Ihre Forschung konzentrierte sich auf physiologische und molekularbiologische Studien von Bakterien, die mit Wasserstoff als Energiequelle wachsen und Kohlendioxid zur Synthese von Zellsubstanz nutzen, was in mehr als 200 Originalarbeiten dokumentiert ist. Von 2008 bis 2018 war Bärbel Friedrich Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs, das die Universität Greifwald und den Wissenschaftsstandort insgesamt fördert. Sie war zudem Vizepräsidentin der Leopoldina (2005 bis 2015), Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1997 bis 2003) und Mitglied des Wissenschaftsrats (1997 bis 2003) Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, darunter den Arthur-Burkhardt-Preis (2013), das Bundesverdienstkreuz (2013), die Verdienstmedaille der Leopoldina (2016), die Mitgliedschaft im Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2021) und die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald (2022). Von 2001 bis 2004 war Bärbel Friedrich Mitglied des GDNÄ-Vorstands.

Michael Hecker wurde 1946 im erzgebirgischen Annaberg geboren. Zum Biologiestudium ging er an die Universität Greifswald, wo er 1973 mit einer Arbeit zur Biochemie der Pflanzen promoviert wurde. In den Folgejahren widmete er sich vor allem der Erforschung des Proteoms, der Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, einem Gewebe oder einer Zelle. Von 1986 bis 2014 war Michael Hecker Professor für Mikrobiologie und von 1990 bis 2013 auch Direktor des dortigen Instituts für Mikrobiologie. Als Dekan trug er von 1990 bis 1994 maßgeblich zum Neuaufbau der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät bei. Von 1997 bis 2001 war er Präsident bzw. Past-Präsident der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, dem größten Zusammenschluss mikrobiologisch orientierter Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum. Michael Hecker erhielt mehrere Wissenschaftspreise und 2023 die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen. Er ist gewähltes Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Akademien, darunter der American Academy of Microbiology, der European Academy of Microbiology, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Marion Merklein © FAU

© mdv

Titelseite des neuen Buchs „Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland“. Ernst-Ludwig Winnacker, DFG-Präsident von 1998 bis 2006, hat das Vor- und Nachwort verfasst.  

Weitere Informationen

Buch

Michael Hecker, Bärbel Friedrich: Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte in Ost-West-Perspektive (mit Vor- und Nachwort von Ernst-Ludwig Winnacker), 345 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023