Heike Rauer: Auf der Suche nach einer zweiten Erde

Auf der Suche nach einer zweiten Erde

Heike Rauer, Direktorin des Instituts für Planetenforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin-Adlershof, über ein neues Weltraumteleskop und ihre Arbeit mit jungen Leuten.

Frau Professorin Rauer, in Ihrem Vortrag bei der 200-Jahr-Feier der GDNÄ ging es um die alte Menschheitsfrage, ob Leben auch außerhalb der Erde möglich ist. Seither sind einige Monate vergangen. Sind Sie der Antwort ein wenig näher gerückt?
Ich denke ja. Wir kommen gut voran mit den Arbeiten am Weltraumteleskop PLATO, das Ende 2026 starten soll und erdähnliche Planeten in der Milchstraße aufspüren kann. Von PLATO erhoffen wir uns bahnbrechende Erkenntnisse, die uns helfen, solche Fragen zu beantworten.

Sie gehören zum Leitungsteam von PLATO. Wie können wir uns dieses Projekt vorstellen?
Es handelt sich um ein 2014 ins Leben gerufenes wissenschaftliches Großvorhaben der europäischen Raumfahrtagentur ESA, an dem mehr als hundert Forschungseinrichtungen und die Raumfahrtindustrie mitwirken. Das Akronym PLATO steht für PLAnetary Transits and Oscillations of stars, auf Deutsch: Planetarische Transite und Schwingungen von Sternen. Diese Mission wird uns helfen abzuschätzen, wie viele erdähnliche Planeten es überhaupt gibt. Die Atmosphären entdeckter Planeten können wir dann mit großen Teleskopen wie dem James-Webb-Space-Teleskop und dessen Nachfolgeprojekten untersuchen. Aus 1,5 Millionen Kilometer Entfernung von der Erde wird PLATO Sternsysteme in der Milchstraße untersuchen. Es zeichnet die kurzen Verdunkelungen auf, die entstehen, wenn Planeten in den Raum zwischen dem Stern, den sie umrunden, und dem Teleskop geraten. Darüber hinaus misst PLATO die seismischen Schwingungen der Sterne selbst. Sobald wir diese Daten gesammelt betrachten, können wir nicht nur auf Masse und Radius der Planeten schließen, sondern auch ihr Alter bestimmen – und zwar wesentlich genauer, als dies bisher möglich ist.

Um wie viele Planeten geht es dabei?
Bekannt sind heute mehr als fünftausend Planeten außerhalb unseres Sonnensystems, sogenannte Exoplaneten. Das nächste Planetensystem, Proxima Centauri, ist 4,24 Lichtjahre entfernt. Die am weitesten entfernten bekannten Exoplaneten sind 22.000 Lichtjahre von uns entfernt. Eine Reise zu diesen Planeten würde mit heutiger Technik Tausende bis Millionen Jahre dauern und wäre daher völlig ausgeschlossen. Aber mit Weltraumteleskopen wie PLATO können wir wichtige Informationen über sie gewinnen. Dabei geht es uns vor allem um die exakte Bestimmung der mittleren Dichte von Planeten. Bislang ist das nur bei einigen Hundert Planeten gelungen – und keiner davon ist ähnelt dem Erde-Sonne System.

Was interessiert Sie dabei besonders?
Unser großes Ziel ist es ja, Planeten zu finden, die habitabel sind, die also über Voraussetzungen verfügen, unter denen Leben entstehen könnte. Da wir nicht wirklich wissen, wie Leben entsteht, haben wir sehr viele Faktoren im Blick. Direkt beobachten können wir die gesuchten Biosignaturen, also Anzeichen für Leben, nicht – dafür sind Exoplaneten viel zu weit von uns entfernt. Also suchen wir nach indirekten Spuren. Unser heutiges Leben auf der Erde hängt von einem hohen Gehalt an Sauerstoff in der Atmosphäre und von Wasser ab. Daher suchen wir nach Planeten mit Oberflächen, auf denen es dauerhaft flüssiges Wasser und dementsprechend moderate Temperaturen gibt, sowie eine nicht zu dichte und nicht zu dünne Atmosphäre.

Sind das Hauptkriterien für erdähnliche Planeten?
Ja. Auch ein Zentralstern, der sonnenähnlich ist, gehört zu diesen Kriterien. Allerdings wollen wir nicht ausschließen, dass Leben auch in anderen Konstellationen möglich ist. Mit zunehmender Entfernung von der Erde als einzigem uns bekanntem Beispiel, wird es jedoch immer schwieriger, den Indizienbeweis für die Existenz von Leben zu führen. Deshalb rücken wir zunächst erdähnliche Planeten in den Fokus. Parallel dazu suchen wir aber weiter nach Exoplaneten mit einem großen Spektrum von Eigenschaften, um zu verstehen, welche Typen von Planeten es überhaupt gibt und um im nächsten Schritt deren Bewohnbarkeit zu untersuchen.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© OHB-System-AG

Das Weltraumteleskop PLATO (hier eine künstlerische Darstellung) soll Ende 2026 vom Weltraumbahnhof Kourou starten.

Haben Sie schon erste Eindrücke?
Unter den bekannten fünftausend extrasolaren Planeten gibt es Planetentypen, die in unserem Sonnensystem nicht vorkommen. Überhaupt ist die Vielfalt der Planeten weitaus größer als wir lange angenommen haben. Dies wirft neue Fragen auf nach ihrer Entstehung und Bewohnbarkeit auf. Leider reichen unsere Instrumente bisher nicht aus, um einen erdähnlichen Planeten um einen Stern wie die Sonne detektieren zu können. Dieser wäre aber ein idealer Kandidat für die Suche nach Leben. Wir können also unser Planetensystem noch nicht direkt mit anderen Systemen vergleichen. Ein erster Schritt das zu ändern, ist die Satellitenmission PLATO. Die Atmosphären der mit PLATO gefundenen Exoplaneten können wir dann mit großen Teleskopen wie dem James-Webb-Space-Teleskop und dessen Nachfolgeprojekten untersuchen.

In PLATO arbeiten mehr als achthundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt zusammen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Mehrere Konsortien, von denen jedes einzelne aus vielen Partnern bestehen kann, stehen in engem Austausch miteinander. Die Leitung der Gesamtmission von PLATO obliegt der ESA, die auch die Startrakete, das Bodensegment des Satelliten sowie Beiträge zur Payload stellt. Der Satellitenbus, der das Instrument trägt, wird im Auftrag der ESA von einem internationalen Industriekonsortium gefertigt. Das internationale Payload-Konsortium aus wissenschaftlichen Instituten baut, ebenfalls gemeinsam mit der Raumfahrtindustrie, den größten Teil des Instruments aus 26 Kameras mit dazugehöriger Elektronik, Bordcomputern und Stromversorgungseinheiten. Das Payload-Konsortium stellt das Datenzentrum zur wissenschaftlichen Prozessierung der Daten und organisiert die bodengebundenen Nachfolgebeobachtungen an Teleskopen, die mit Hilfe der sogenannten Radialgeschwindigkeitsmethode den Großteil der entdeckten Planeten bestimmen werden. Wichtig für das Gelingen eines solches Großprojektes ist also das gute Ineinandergreifen der verschiedenen Aktivitäten und der beteiligten Konsortien und Organisationen.

Wann rechnen Sie mit ersten Ergebnissen?
PLATO soll Mitte Dezember 2026 starten. Es folgt eine Phase, in der die Funktionalität getestet wird. Gleich im Anschluss beginnt die Beobachtung des ersten Zielfeldes. Wenn alles gut läuft, können wir Ende 2027, Anfang 2028 mit den ersten Datensätzen rechnen. Sie werden es erlauben, kurzperiodische Planeten zu charakterisieren. Um Planeten mit langer Umlaufzeit zu entdecken, ist jedoch mehr Zeit erforderlich.

Werden Sie das Projekt dann noch leiten?
Missionen wie die PLATO-Mission sind sehr langfristige Projekte. PLATO wurde erstmals 2009 vorgeschlagen und geht auf Ideen aus noch früheren Projekten zurück. Bei solchen Projekten muss man generationenübergreifend denken. Ich selbst werde um den Start der Mission herum in Pension gehen und freue mich, das Projekt bis zur ersten Datenaufnahme bringen zu dürfen. Schon jetzt besteht eine Aufgabe von mir gemeinsam mit den Kollegen, die PLATO auf den Weg gebracht haben darin, die nächste Generation von jungen Wissenschaftlern an diese und nachfolgende Missionen heranzuführen.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© ESA

Eine von 26 Kameras der PLATO-Mission.

Wie sind Sie auf dieses Forschungsgebiet gekommen?
Ich habe früher Kometen erforscht, die uns viel über die Entstehung unseres Sonnensystems sagen können. Als dann Mitte der 1990er-Jahre die ersten extrasolaren Planeten entdeckt wurden, schwenkte ich zu dieser Forschungsrichtung um. Jetzt können wir unser Sonnensystem erstmals direkt mit anderen Systemen vergleichen und dabei viel über die Prozesse zu lernen, die unser System beeinflusst haben. Und natürlich finde auch ich es faszinierend, nach Leben jenseits der Erde zu suchen.

Bei der Leipziger Jubiläumstagung der GDNÄ zogen Sie mit Ihrem Vortrag über extrasolare Planeten das Publikum in Ihren Bann. Was bedeuten Ihnen solche Auftritte?
Ich merke bei öffentlichen Vorträgen immer wieder, wie sehr das Publikum sich für unsere Arbeit interessiert. Man will eben wissen, wie Planeten entstehen, wie sich Leben bildet und ob es auch um andere Sterne Planeten mit Leben gibt. Heute können wir erstmals mit wissenschaftlichen Methoden Antworten auf diese Fragen finden – und über diese Arbeit berichte ich der interessierten Öffentlichkeit ausgesprochen gern.

In Leipzig haben Sie das Schülerprogramm der GDNÄ kennengelernt. Ihr Forschungszentrum, das DLR, betreibt Schülerlabore, in denen auch Sie sich engagieren. Um was geht es in der Arbeit mit jungen Leuten?
Ich finde es wichtig, den Jugendlichen zu zeigen, was Forschung wirklich ausmacht, und will sie zum Weiterdenken anregen. Die Astronomie eignet sich dafür meiner Erfahrung nach besonders gut, denn sie beschäftigt sich mit den großen Fragen nach dem Woher und Wohin, was gerade junge Leute sehr anspricht. Oft können wir sie motivieren, auch schwierige Studiengänge in den Natur- und Ingenieurwissenschaften anzugehen und bis zum Abschluss durchzuhalten.

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© DLR

Prof. Dr. Heike Rauer leitet das DLR-Institut für Planetenforschung und koordiniert die Exoplaneten-Mission PLATO.

Zur Person

Seit 2017 leitet Professorin Heike Rauer das Berliner Institut für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit mehr als hundert Mitarbeitern. Die Physikerin ist gleichzeitig Professorin an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Geowissenschaften, Fachrichtung Planetare Geophysik. Rauer forscht bereits seit 1997 am DLR-Institut für Planetenforschung und leitete dort über viele Jahre die Abteilung „Extrasolare Planeten und Atmosphären“. Davor, von 1995 bis 1997, war sie Forschungsstipendiatin der Europäischen Weltraumorganisation ESA am Observatoire de Paris-Meudon. 2004 hatte Rauer sich an der Technischen Universität Berlin habilitiert und lehrte dort als Professorin für Planetenphysik am Zentrum für Astronomie und Astrophysik. 1991 wurde sie mit einer Forschungsarbeit zu Plasmaschweifen von Kometen an der Universität in Göttingen promoviert. Heike Rauer erwarb ihr Diplom in Physik 1986 an der Leibniz-Universität in Hannover. Seit 2013 leitet sie das Instrumentenkonsortium für das ESA-Weltraumteleskop PLATO, das von 2026 an in der Milchstraße nach Planeten suchen wird. Zudem ist sie Mitglied des Wissenschaftsteams des „Next Generation Transit Survey“ am Paranal-Observatorium der Europäischen Südsternwarte ESO in Chile sowie Koordinatorin des DFG-Schwerpunktprogramms „Exploring the Diversity of Extrasolar Planets“.

Weitere Informationen:

Ernst-Ludwig Winnacker: Die Kooperation mit China ist unverzichtbar

„Die Kooperation mit China ist unverzichtbar“

Forschung in der Zeitenwende: Warum der langjährige Wissenschaftsmanager Ernst-Ludwig Winnacker zu behutsamer Kontinuität rät und wo er neue Potenziale sieht. 

Herr Professor Winnacker, über Jahrzehnte haben Sie sich für die Internationalisierung der deutschen Wissenschaft eingesetzt. Was hat Sie dazu bewogen und was wurde erreicht?
Wissenschaft kennt keine Grenzen und sie gedeiht kaum in intellektueller Isolation. Eines der letzten Universalgenies, Gottfried Wilhelm Leibniz, ist dafür ein gutes Beispiel: Er gab sich nicht zufrieden mit Diskussionen im heimischen Hannover, sondern suchte zeitlebens den Wettbewerb mit europäischen Peers – etwa mit Christiaan Huygens in Amsterdam und Isaac Newton in London. Derart vernetzt zu arbeiten, ist heute unverzichtbar. Bei meinem Amtsantritt als DFG-Präsident habe ich die Internationalisierung daher zu einem Schwerpunkt gemacht. Wir haben dann nicht nur internationale Graduiertenkollegs gegründet, sondern auch Büros in wichtigen Partnerländern wie den USA, in Russland, China, Japan und Indien. Darüber hinaus habe ich als Vorsitzender der EUROHORCS, also der European Union Research Organisations Heads Of Research Councils, den Aufbau eines transnationalen, europäischen Forschungsrates nach dem Muster der DFG vorbereitet. Der European Research Council, kurz ERC, nahm 2007 die Arbeit auf und ich konnte als erster Generalsekretär zum Zusammenwachsen in der Forschung beitragen. 

Heute haben wir einen Krieg in Europa, die Feindseligkeiten zwischen den Großmächten nehmen zu, die unaufhaltsam scheinende Internationalisierung stockt. Erleben wir das Ende eines goldenen Zeitalters, auch in der Wissenschaft?
Die Nachkriegszeit bis in die frühen Nullerjahre des 21. Jahrhunderts könnte man vielleicht als ein goldenes Zeitalter der Wissenschaft bezeichnen. Aber mit zunehmenden Restriktionen in etlichen Ländern ist es damit vorbei. So hat die Schweiz im Jahre 2014 Einwanderung und Personenfreizügigkeit begrenzt und damit ihre bilateralen Verträge mit der EU gebrochen. Für den ERC ist das Land daher nur ein Partner unter vielen. Im Jahr 2020 folgte der Brexit, der das Vereinigte Königreich für den ERC zum nichtassoziierten Drittland machte. Die Zahl der britischen und schweizerischen Staatsangehörigen in EU-Programmen ist in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Für die europäische Forschung ist das ein herber Verlust, denn sowohl die Schweiz als auch Großbritannien verfügen über hervorragende Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Gerade auch für Deutschland waren sie jahrzehntelang wichtige Partner. 

Als DFG-Präsident eröffneten Sie im Jahr 2000 zusammen mit der chinesischen Partnerorganisation das Chinesisch-Deutsche-Wissenschaftszentrum in Peking. Es sollte die Zusammenarbeit beider Länder in Forschung und Lehre stärken. Was ist daraus geworden?
In der Tat haben wir damals ein gemeinsames Gebäude mit der National Natural Science Foundation of China, kurz NSFC, in unmittelbarer Nachbarschaft zu deren Hauptgebäude in Peking gebaut. Das Zentrum gibt es bis heute. Inzwischen ist die Zusammenarbeit mit China viel schwieriger als damals. Seinerzeit galt China als Entwicklungsland. Heute ist es zum strategischen Wettbewerber geworden. Dennoch: Das Chinesisch-Deutsche Zentrum ist eine Erfolgsgeschichte und ich bin stolz darauf. Das Zentrum hat uns intensive wissenschaftliche Kontakte und Kooperationen in diesem riesigen Land gebracht, das nach seiner Einwohnerzahl rund zehn Mal größer als Russland ist und enorme wissenschaftliche Potenziale birgt. 

Eine kürzlich erschienene Studie der Hoover Institution an der Stanford-Universität kritisiert die enge Zusammenarbeit. Ihr Autor, Jeffrey Stoff, zitiert Hunderte von Publikationen, an denen deutsche und chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt sind. Wie bewerten Sie die Studie?
Erfreulicherweise sind im Laufe der Jahre viele gemeinsame Publikationen entstanden, wovon die meisten von der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) gefördert wurden. Unsere beiden Wissenschaftsorganisationen hatten sich in den 1990er-Jahren die akademische Welt Chinas aufgeteilt: Die MPG arbeitete hauptsächlich mit der chinesischen Wissenschaftsakademie CAS zusammen, die DFG mit der NSFC, beziehungsweise mit den einzelnen Universitäten. Diese Art der Zusammenarbeit begrüßten die Amerikaner noch bis weit in die Nullerjahre hinein. Mehr noch: Sie nahmen sich uns sogar zum Vorbild. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Auftritt mit Professor Arden Bement, dem ehemaligen Chef der DFG-Partnerorganisation in den USA, der National Science Foundation, als diese 2006 ihr eigenes Zentrum in Peking eröffnete. Heute sieht man in den USA die Zusammenarbeit mit China sehr viel kritischer. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die deutsch-chinesische Zusammenarbeit in der Wissenschaft jetzt in Stanford derart aufs Korn genommen wird. 

Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger rief im Frühjahr 2022 zur Achtsamkeit in Wissenschaftskooperationen mit China auf. Ein berechtigter Appell?
Ja und nein. Manche Fragen, etwa im IT- und KI-Bereich, lassen sich auf nationaler Ebene lösen. Andere Themen, beispielsweise im Bereich Klimaschutz oder in der Meeresforschung, bedürfen intensiver, internationaler Zusammenarbeit – auch mit China. Weil die Ergebnisse vieler dieser Projekte finanzielle Konsequenzen haben oder von militärischem Nutzen sein können, gilt es genau zu prüfen, wer mit wem wo zusammenarbeitet und wie die Ergebnisse kommuniziert werden. Einfach ist die Situation sicherlich nicht. So spielt bei uns die grundgesetzlich garantierte Forschungsfreiheit eine zentrale Rolle, in China ist das nicht der Fall. Und wenn Staatschef Xi Jinping dieser Tage die Fusion von ziviler und militärischer Forschung fordert, dann muss uns das nachdenklich stimmen. Eindeutige Dual-Use-Projekte, deren Ergebnisse also sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, sollten aus meiner Sicht ohne Beteiligung chinesischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stattfinden. Die Leopoldina hat zusammen mit der DFG zum Thema Dual Use kluge Empfehlungen verabschiedet. Sie sollten es erleichtern, hier das richtige Augenmaß zu finden. 

In Deutschland studieren rund vierzigtausend Chinesinnen und Chinesen und viele von ihnen fertigen hier ihre Master- und Doktorarbeiten an. Ein Sicherheitsrisiko?
Möglicherweise ja. Aber wie soll man das überprüfen? Eine Kontrolle durch eine zentrale Stelle wäre wohl kaum praktikabel. Für sinnvoller halte ich es, die Arbeiten einzeln auf ihren gegebenenfalls sensiblen Charakter zu überprüfen. Die Verantwortung dafür sollte in der Hand der Projektleitungen oder der Prüfungskommissionen liegen. 

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wurden die Forschungsprojekte mit Russland auf Eis gelegt oder beendet. Welche Zukunft haben die traditionsreichen deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen?
Solange Russland diesen Krieg führt, können institutionelle Kooperationen nicht mehr stattfinden. Die Bundesregierung hat hier ihr „Roma locuta – causa finita“ beschlossen Das finde ich richtig und angemessen. 

Institutionelle Kooperationen sind das eine, persönliche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in Russland und China das andere. Deutsche Wissenschaftler pflegen solche Verbindungen seit vielen Jahren. Was davon ist heute noch begrüßenswert, was akzeptabel und was geht zu weit?
Was Russland angeht, halte ich private wissenschaftliche Kontakte derzeit für kaum verantwortbar, denn sie können dortige Forscherinnen und Forscher gefährden. Falls solche Verbindungen jedoch aufrechterhalten werden, müssen die institutionellen Träger darüber informiert werden. Transparenz ist hier das A und O. China führt derzeit keinen Krieg gegen einen Nachbarn. Wir sollten aber, wie schon beschrieben, genau hinzuschauen und manche Projekte nicht finanzieren. Dennoch halte ich die wissenschaftliche Zusammenarbeit gerade mit China für wünschenswert, wenn nicht sogar für unverzichtbar. Schließlich besitzt das Land hervorragende Universitäten und Forschungsorganisationen. Im neuesten Times Higher Education-Ranking für 2023 rangieren Tsinghua und Peking an den Plätzen 16 und 17, die besten deutschen Universitäten, die beiden Münchener Unis, folgen erst auf den Plätzen 30 und 33. 

Welche Zukunft sehen Sie für die großen internationalen Programme in Raumfahrt, Umwelt- und Energieforschung? Denken wir etwa an die ISS, an Klimaforschung und physikalische Grundlagenforschung.
Die Programme sollten weitergehen, sofern die Sanktionen das erlauben. Aber die ständige Erörterung von Meinungsverschiedenheiten, etwa zum Umgang mit Minderheiten wie den Uiguren, muss Teil unseres wissenschaftlichen Profils sein. Da dürfen wir im Umgang mit der chinesischen oder der russischen Seite keine Ruhe geben.  

Wie beurteilen Sie die deutsche Außenwissenschaftspolitik als Mittel der Diplomatie?
Außenwissenschaftspolitik entsteht immer dann, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler internationale Kontakte pflegen. Diese spiegeln dann nicht nur die Qualität der jeweiligen Projekte und Personen wider, sondern zeugen auch von der Bedeutung der Wissenschaftssysteme und Institutionen, aus denen sie stammen. Oft finden solche Kontakte unterhalb der Radarschirme offizieller Einrichtungen statt und gelegentlich werden sie genutzt, wenn eine Zusammenarbeit nicht gleich offiziellen Charakter haben soll. Außenwissenschaftspolitik war immer wieder ein großes Thema, beispielsweise als es seinerzeit um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel ging.  Drei Wissenschaftler, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Feodor Lynen, die das Vertrauen von Chaim Weizmann genossen, reisten in den 1950er-Jahren nach Israel, um Wege zu einem Treffen von Ben Gurion und Konrad Adenauer zu bahnen. Ob es derzeit Wissenschaftler gibt, deren Ansehen groß genug ist, um zusammen mit russischen Kollegen die russische Regierung zu beeinflussen, wage ich zu bezweifeln. In Sachen Außenwissenschaftspolitik gibt es ein sehr schönes Buch mit dem Titel „Wettlauf ums Wissen“, herausgegeben von Georg Schütte und erschienen im Jahr 2008. Vielleicht sollte man jetzt, nach der proklamierten Zeitenwende, eine Neuauflage dieses Buchs beziehungsweise einer Konferenz zu diesem Thema erwägen. 

Welchen Weltregionen sollte Deutschland sich in der Wissenschaft künftig stärker zuwenden? Wo schlummern Potenziale?
In Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur, Thailand, Indien, Brasilien, Argentinien und Chile. Das kleine Singapur hat mindestens zwei bedeutende Universitäten, auf deren Basis der Stadtstaat Mitglied im Human Frontier Science Program (HFSP) werden konnte. Ähnliches gilt für Japan und Südkorea. Japan war Ende der 1990-er Jahre Initiator dieses Programms, das bis heute existiert und jährlich an die 55 Millionen US-Dollar für Spitzenwissenschaft ausgibt. Seinerzeit hatte Japan keinen besonders guten Ruf in der Wissenschaft, was sich inzwischen grundlegend geändert hat. Bei Taiwan denkt man an die National Taiwan University (NTU), aber auch an die Academia Sinica und den Chemie-Nobelpreisträger Yuan T. Lee, der bis 2006 Präsident der Academia Sinica war. Ich habe ihn oft in Lindau getroffen, und einmal auch in Taipeh in der Akademie besucht. Eine stärkere wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Taiwan lohnt sich auf jeden Fall. Mit Indien pflegt die DFG seit Jahrzehnten intensive wissenschaftliche Beziehungen, insbesondere mit den diversen Indian Institutes of Technology (IITs), aber auch mit der INSA, der indischen Akademie der Wissenschaften, und dem International Center of Genetic Engineering and Biotechnology (ICGEB) mit seinen beiden Zweigstellen in Triest und in Delhi. Während meiner Präsidentschaft wurde sogar ein DFG-Büro in Delhi eingerichtet. Die Kooperation mit Ländern in Südamerika hat eine lange Tradition und eine vielversprechende Zukunft, etwa beim Betrieb von Großteleskopen, in Umweltwissenschaften und biomedizinischer Forschung. 

Welche Rolle kann die GDNÄ als deutschsprachige Wissenschaftsgesellschaft in der modernen Wissenschaftswelt spielen?
Die GDNÄ muss als glaubhafte Vermittlerin von Wissenschaft tätig sein, heute mehr denn je. Vielleicht sollte sie sich zu diesem Zweck stärker mit anderen Akteuren zusammentun, beispielsweise mit der Leopoldina. Ein guter Ansatzpunkt wäre das Engagement für Schülerinnen und Schüler. In diesem Bereich hat die GDNÄ in den vergangenen Jahren Beeindruckendes geleistet.

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© Michael Till / LMU

Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, GDNÄ-Präsident in den Jahren 1999 und 2000.

Zur Person

Ernst-Ludwig Winnacker kam 1941 in Frankfurt/Main zur Welt. Er studierte Chemie an der ETH Zürich und wurde dort 1968 promoviert. Es folgten Postdoktorate an der University of California, Berkeley, von 1968 bis 1970 und am Karolinska-Institut in Stockholm (1970–1972). 1980 wurde Winnacker zum Professor für Biochemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ernannt; 1984 übernahm er die die Leitung des Laboratoriums für Molekulare Biologie – Genzentrum der Universität München. Von 1987 bis 1993 war Ernst-Ludwig Winnacker Vizepräsident und von 1998 bis 2006 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Während dieser Zeit, von 1999 bis 2000, war er Präsident der GDNÄ. Von 2007 bis 2009 fungierte er als Erster Generalsekretär des European Research Council in Brüssel und von 2009 bis 2015 als Generalsekretär des Human Frontier Science Program in Straßburg. Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien, darunter der Leopoldina und der National Academy of Medicine der USA und hat zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, den Order of the Rising Sun, Gold and Silver Star des Kaiserreichs Japan und den International Science and Technology Cooperation Award der Volksrepublik China. Winnacker ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Dazu zählen neben dem Lehrbuch „Gene und Klone. Eine Einführung in die Gentechnologie“ (1984) die Sachbücher „Das Genom“, (1996), „Viren, die heimlichen Herrscher“ (1999) und „Mein Leben mit Viren“ (2021).

Weitere Informationen:

Anke Kaysser-Pyzalla: Ein Nährboden für neue Ideen

„Ein Nährboden für neue Ideen“

Sie ist Chefin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und neu im Präsidium der GDNÄ: Was sie antreibt, was sie vorhat, skizziert die Ingenieurin Anke Kaysser-Pyzalla in diesem Gespräch.  

Frau Professorin Kaysser-Pyzalla, seit Anfang 2023 sind Sie Vizepräsidentin der GDNÄ. Haben Sie schon Pläne für das neue Amt?
Ja die habe ich und dabei sind mir zwei Bereiche besonders wichtig: zum einen die Nachwuchsgewinnung für Berufe im thematischen Spektrum der GDNÄ, zum anderen die interdisziplinäre Herangehensweise an aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel, Energieversorgung oder globale Gesundheit. In diesen Bereichen kann die GDNÄ viel bewirken. Sie strahlt Faszination und Begeisterung für die Naturwissenschaften aus, über die wir deutlich mehr Menschen für ein entsprechendes Studium gewinnen können. Ich denke dabei nicht nur an Schülerinnen und Schüler, sondern auch an Erwachsene mit Berufserfahrung, die sich ein Zweitstudium vorstellen können. Es gibt so viele interessante Karrierewege – in Forschung und Entwicklung, an den Hochschulen, in Großunternehmen, aber auch in kleinen und mittelständischen Firmen – das möchte ich stärker in den Fokus rücken. 

Thema Interdisziplinarität: Warum ist sie Ihnen so wichtig und welche Rolle kann die GDNÄ dabei spielen?
Wir werden die großen Menschheitsprobleme nur durch fachübergreifende Zusammenarbeit bewältigen können, das ist heute Konsens. Die GDNÄ, deren Markenzeichen die Interdisziplinariät ist, kann als Plattform für den Austausch unter Experten dienen, als Nährboden für neue Ideen und Ort des öffentlichen Dialogs. 

An Arbeitsmangel werden Sie als Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt nicht leiden. Wie viel Zeit und Energie lässt das Hauptamt Ihnen für ehrenamtliche Tätigkeiten, etwa im GDNÄ-Vorstand?
Meine Tage sind tatsächlich durchgetaktet. Aber ich nehme mir Zeit für die GDNÄ, weil ich finde, dass Menschen in Positionen wie meiner sich auch für die Gesellschaft engagieren sollten. Außerdem habe ich wunderbare Kolleginnen und Kollegen im DLR und in der GDNÄ, die mich unterstützen.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© DLR (CC BY-NC-ND 3.0)

Ein am DLR entwickeltes Regionalflugzeug mit Brennstoffzellen-Antrieb im Probebetrieb. Mit 25 Instituten und Einrichtungen in der Luftfahrtforschung treibt das DLR den Wandel hin zu einer zukunftsfähigen, umweltverträglichen Luftfahrt voran.

Wie können wir uns Ihren beruflichen Alltag als DLR-Chefin vorstellen?
Die meiste Zeit verbringe ich mit Besprechungen und Konferenzen, die im Interesse von Nachhaltigkeit und Effizienz überwiegend online stattfinden. Intern ist die Organisationsentwicklung in Richtung moderner Arbeitsformen gerade ein großes Thema bei uns. Aber ich bin auch unterwegs, so an den Standorten des DLR, oder für persönliche Gespräche mit unseren Kooperationspartnern im In- und Ausland. 

Wer sind diese Partner?
Wir arbeiten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in akademischer und industrieller Forschung zusammen, mit großen, mittelständischen und kleineren Unternehmen und mit der Bundeswehr. Im Ausland kooperieren wir eng mit Forschungseinrichtungen und Firmen in anderen europäischen Staaten, vor allem aus Frankreich, aber auch aus den USA, Australien, Singapur und Japan – um nur einige Länder zu nennen.    

China zählt nicht dazu?
Auf Grund der sich verändernden geopolitischen Lage und internationaler Spannungen hat das DLR die Kooperationen mit China konsequent reduziert, bestehende Formen der Zusammenarbeit laufen aus. 

Wo steht das DLR heute und wohin geht die Reise?
Mit mehr als zehntausend Mitarbeitenden, dreißig Standorten und mehr als fünfzig Instituten und Forschungseinrichtungen sind wir das größte Forschungszentrum im ingenieurwissenschaftlichen Bereich in Europa. Bei uns geht es um Luft- und Raumfahrt, Energieversorgung, Mobilität, aber auch um Sicherheits- und Verteidigungsforschung und Katastrophenhilfe. Wir arbeiten anwendungsorientiert und haben daher in unserer Forschung immer auch den Weg in Wirtschaft und Gesellschaft im Blick. Wir fliegen Satelliten, die nicht nur für die Erd- und Klimabeobachtung wichtig sind, sondern auch für die Navigation, etwa beim Zukunftsthema autonomes Fahren. Das DLR besitzt eine große Flugzeugflotte und forscht intensiv zum klimaverträglichen Fliegen.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© DLR

Bei der Entwicklung neuer unbemannter Flugkörper und ihrer Integration in den Luftraum ist in Deutschland das Nationale Erprobungszentrum für Unbemannte Luftfahrtsysteme des DLR die treibende Kraft.

Derzeit hat der Flugverkehr einen Anteil von 3,5 Prozent an den klimarelevanten Emissionen weltweit. Wie lässt sich die Belastung reduzieren?
Das hängt von den Passagierzahlen und den Flugdistanzen ab. Für Kleinflugzeuge kommen Batterien infrage. Für Kurz- und Mittelstrecken eignen sich wasserstoffbasierte Antriebe wie die Brennstoffzelle. Bei Langstrecken denken wir an Sustainable Aviation Fuels, kurz SAF, die nachhaltig aus nicht-fossilen Rohstoffen hergestellt werden. Zudem betrachten wir das Gesamtsystem Flugzeug, um auf dem Weg zum klimaverträglichen Fliegen alle technisch-technologischen Möglichkeiten nutzen zu können. Dazu gehören Änderungen im aerodynamischen Verhalten ebenso wie neue Flugzeugkonfigurationen oder die Planung und Umsetzung von klimaverträglichen Flugrouten.

Wann rechnen Sie mit ersten Anwendungen im regulären Flugbetrieb?
SAF werden bereits als Beimischungen zu herkömmlichen Treibstoffen genutzt. Aktuell versuchen wir in mehreren Projekten die in der Luftfahrt benötigten Mengen im industriellen Maßstab verfügbar machen.

Lassen Sie uns noch einmal auf die GDNÄ schauen: Nach dem Mediziner Martin Lohse hat jetzt mit Heribert Hofer ein Zoologe die GDNÄ-Präsidentschaft übernommen. Sie sind Materialwissenschaftlerin und Maschinenbauerin und werden 2025 im Amt folgen. Wird die GDNÄ der Zukunft technikwissenschaftlicher sein?
Sie wird interdisziplinär sein und es wird vielleicht noch mehr Synergien zwischen den einzelnen Fachgebieten geben. Das passt gut zur GDNÄ und gut zum DLR, das neben den Technikwissenschaften auch in den Naturwissenschaften aktiv ist: Denken wir nur an das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln, wo Medizinerinnen und Mediziner sowie Psychologinnen und Psychologen biomedizinische Forschung auf höchstem Niveau betreiben.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© DLR

Die ESA-Kurzarmzentrifuge im :envihab des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln. In der weltweit einmaligen Forschungsanlage werden die Auswirkungen von Umweltbedingungen wie der Schwerkraft auf grundlegende Mechanismen der menschlichen Gesundheit, der Lebensbedingungen und der Leistungsfähigkeit des Menschen untersucht. In der neuen Kurzarmzentrifuge können Probanden mit bis zu 4,5 Gramm am Fußende beschleunigt werden.

In ihrer 200-jährigen Geschichte hatte die GDNÄ bisher siebzig Präsidenten und nur zwei Präsidentinnen. Auch die Mitglieder sind überwiegend männlich. Steht Frauenförderung auf Ihrer Agenda?
Ja, das ist ein ganz wichtiges Zukunftsthema. In der Medizin ist der Nachwuchs schon zum größten Teil weiblich, in den Natur- und Ingenieurwissenschaften gibt es Nachholbedarf. Da müssen wir stärker zeigen, wie viel Spaß diese Berufe machen und uns noch mehr um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit kümmern.

Das Schülerprogramm hat sich zu einem starken Pfeiler in der GDNÄ entwickelt wie etwa die Jubiläumsfeier 2022 in Leipzig zeigte. Welchen Stellenwert hat dieses Programm für Sie und haben Sie schon Ideen für die Nachwuchsförderung?
Das Schülerprogramm ist eine tolle Sache und ganz wichtig für die GDNÄ. Beim DLR haben wir gut funktionierende Schülerlabore, da lassen sich womöglich Synergien schaffen. Auch den Schülerinnen und Schülern möchte ich zeigen, wie attraktiv Berufe in Medizin, Natur- und Technikwissenschaften sind. Vielleicht gelingt es uns, Patenschaften zwischen etablierten Wissenschaftlern und jungen Leuten und eine Plattform mit Materialien für den naturwissenschaftlichen Unterricht aufzubauen. Bestimmt haben die Mitglieder der GDNÄ weitere gute Ideen – die sollten wir sammeln und auswerten.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© DLR

DLR-Schülerlabor: Experimente auf der Bühne gaben bei der Einweihung Ende September 2022 einen Vorgeschmack auf die neuen Möglichkeiten, die das DLR_School_Lab Jena jungen Leuten bietet.

Der Austausch mit der Öffentlichkeit ist ein starkes Anliegen der GDNÄ. Wie beurteilen Sie das bisherige Engagement? Wollen Sie den Dialog vertiefen?
Die GDNÄ wird in der Öffentlichkeit geschätzt und hat sich große Verdienste im Dialog mit der Gesellschaft erworben. Diese Arbeit möchte ich fortsetzen. Als Wissenschaftler haben wir die Pflicht, unser Wissen in die öffentliche Diskussion einzubringen. Wichtig ist, dass man sich auf Zahlen und Fakten, etwa auf die Geltung naturwissenschaftlicher Gesetze, einigen kann. Darauf müssen wir Wissenschaftler verstärkt hinwirken. 

Zum Schluss noch eine persönlichere Frage: Wie sind Sie zur GDNÄ gekommen und was bedeutet sie Ihnen?
Ich bin durch andere Mitglieder und ihre begeisterten Schilderungen zur GDNÄ gekommen. Mir imponiert ihre große Tradition und ihre Offenheit für Zukunftsthemen. Dafür setze ich mich gern ein.

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© DLR

Prof. Dr.-Ing. Anke Kaysser-Pyzalla

Zur Person

Prof. Dr. Anke Kaysser-Pyzalla hat in Bochum und Darmstadt Maschinenbau und Mechanik studiert. Sie wurde an der Ruhr-Universität Bochum promoviert und habilitierte sich auch dort. Nach Forschungstätigkeiten am Hahn-Meitner-Institut (HMI) und an der Technischen Universität Berlin forschte und lehrte sie von 2003 bis 2005 an der Technischen Universität Wien. 2005 wechselte sie als Wissenschaftliches Mitglied, Direktorin und Geschäftsführerin in die Leitung des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung GmbH nach Düsseldorf. 2008 folgte die Berufung zur Wissenschaftlichen Geschäftsführerin der Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie GmbH, die unter ihrer Leitung aus der Fusion von HMI und der Berliner Elektronenspeicherring-Gesellschaft für Synchrotronstrahlung (BESSY) hervorging. 2017 wurde Anke Kaysser-Pyzalla zur Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig gewählt. Seit 2020 ist sie Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und seit dem 1. Januar 2023 zweite Vizepräsidentin der GDNÄ.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

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Un­be­mann­ter DLR For­schungs­hub­schrau­ber su­per­AR­TIS mit Ab­wur­fein­rich­tung für Hilfs­gü­ter.

Weitere Informationen:

Rainer Blatt: Die Quantentechnologie entwickelt sich stürmisch

„Die Quantentechnologie entwickelt sich stürmisch“

Für seine Leistungen auf dem Gebiet der Quantenphysik erhält Anton Zeilinger den Physiknobelpreis 2022. Wie Österreich zu einem Hotspot dieser Forschungsrichtung wurde und wie man jetzt in Deutschland aufholen will, schildert in diesem Interview Professor Rainer Blatt. Er ist vielen GDNÄ-Mitgliedern durch seine Vorträge und Publikationen bekannt und arbeitet seit Langem eng mit Anton Zeilinger zusammen. 

Herr Professor Blatt, wie viele Interviews haben Sie seit Anfang Oktober gegeben?
Es werden fünf oder sechs gewesen sein. Die Anfragen kamen von nationalen und internationalen Agenturen und Zeitungen. 

Um was ging es in den Gesprächen?
Anlass war natürlich der Nobelpreis für die Quantenforschung, der meinem Kollegen Anton Zeilinger zusammen mit dem Franzosen Alain Aspect und dem US-Amerikaner John Clauser zugesprochen wurde. Das Themenspektrum reichte von Fragen der Grundlagenforschung bis zu meiner Verbindung zu Anton Zeilinger.  

Das interessiert auch uns: Wie lange kennen Sie Anton Zeilinger und was verbindet Sie beide?
Wir kennen uns seit 35 Jahren und haben bald nach meiner Ankunft an der Universität Innsbruck im Jahr 1995 mit unserer Zusammenarbeit begonnen. Uns verbindet die quantenphysikalische Forschung, wobei sich unsere Ansätze unterscheiden, aber gut ergänzen. Anton Zeilinger widmet sich den Grundlagen der Quantenmechanik und arbeitet mit Photonen, ich habe mich auf Atome und Ionen spezialisiert und nehme stärker die Anwendungen in den Blick. Zusammen gründeten wir mit Peter Zoller und weiteren Kollegen im Jahr 2003 in Innsbruck das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation, kurz: IQOQI. Unser Vorbild war das berühmte JILA, ein US-Institut für Atomphysik und Astrophysik in Boulder, Colorado. Dort hatten Peter Zoller und ich wunderbare Forschungsaufenthalte verbracht. Zurück in Österreich konnten wir die hiesige Akademie der Wissenschaften für den Aufbau einer ähnlichen Institution in unserem Land gewinnen. Inzwischen hat sich das IQOQI, das kann man ohne Übertreibung sagen, zu einem Leuchtturm der Forschung entwickelt.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© IQOQI/M.R.Knabl

Exklusive Lage den Tiroler Alpen: das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI).

Wie können wir uns das Institut vorstellen?
Wir arbeiten an zwei Standorten: Hier in Innsbruck forschen inzwischen mehr als 200 Wissenschaftler aus über 20 Ländern, ähnlich groß und international ist das Team um den Leiter Markus Aspelmeyer in Wien. Trotz unterschiedlicher Forschungsschwerpunkte arbeiten wir eng zusammen und unsere Arbeitsgruppen treffen sich regelmäßig, um sich auszutauschen. In den ersten Jahren habe ich das Institut als Gründungsdirektor geleitet, seither fungiere ich als wissenschaftlicher Direktor. 

Könnte man das IQOQI demnach als Keimzelle für den Quantenphysik-Nobelpreis 2022 bezeichnen?
Durchaus. Zwar sind viele der mit dem Preis gewürdigten Arbeiten bereits vor der Gründung des Instituts entstanden, das IQOQI hat jedoch die Sichtbarkeit der Quantenphysik in Österreich sehr befördert.  

Welche Bedeutung hat die Auszeichnung für Ihr Fachgebiet in Österreich?
Der Nobelpreis ist auch eine Anerkennung für die immense Aufbauleistung der letzten 25 Jahre. Sie hat dazu geführt, dass in der Quanteninformation hierzulande eine kritische Masse entstanden ist. Mit seinen Pro-Kopf-Ausgaben für diesen Bereich ist Österreich weltweit führend. Dafür gesorgt haben unsere Förderagenturen, allen voran der Wissenschaftsfonds FWF, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und die Österreichische Akademie der Wissenschaften – ihnen gilt unser ganz besonderer Dank. 

Wie steht es um die praktische Anwendung der Forschungsergebnisse, etwa im Bereich Quantencomputer?
Es gibt erste Prototypen, die mit einigen zehn Quantenbits, sogenannten Qubits, rechnen können. Das ist sehr viel, wenn man bedenkt, dass ein Quantencomputer im Prinzip schon mit fünfzig Qubits die Leistungsfähigkeit eines heutigen Supercomputers erreichen kann. Voraussetzung ist allerdings, dass die Quantenrechnungen sich beliebig lange fortsetzen lassen und dabei keinerlei Fehler passieren. Davon sind wir noch weit entfernt, doch an Fehlerkorrektur und Skalierbarkeit wird derzeit weltweit intensiv gearbeitet. Überhaupt entwickelt sich das Feld stürmisch, das Potenzial ist extrem groß und viele junge Leute mit frischen Ideen stoßen neu hinzu.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© IQOQI/M.R.Knabl

Blick in ein Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation.

Oft heißt es, dass Quantencomputer mit gigantischen Rechenleistungen klassische Computer schon bald ganz verdrängen werden. Sehen Sie das auch so?
Nein, denn Quantencomputer eignen sich besonders gut für die Lösung von speziellen Problemen, zum Beispiel für die Berechnung der Quanteneigenschaften von Materialien, was in der Chemie sehr wichtig ist und wofür heute rund die Hälfte der weltweiten Rechenleistung verbraucht wird. Klassische Computer benötigen für solche Operationen sehr viel mehr Speicherkapazität als Quantencomputer. Übrigens wies schon in den 1980er-Jahren der US-Nobelpreisträger Richard Feynman darauf hin, dass es doch sehr viel sinnvoller sei, für solche Aufgaben Computer zu verwenden, die mit Quanteneigenschaften rechnen und somit das Quantenverhalten automatisch berücksichtigen, als dies auf einem klassischen Rechner kompliziert zu programmieren. Klassische Computer werden weiterhin Standardberechnungen und Routinearbeiten durchführen und haben ihre Berechtigung, wenn es zum Beispiel um Big-Data-Anwendungen geht, etwa in der Klimaforschung. Hier gelten die Regeln der klassischen Mechanik, das ist nicht das Terrain der Quantenrechner.

Mit zwei Milliarden Euro fördert die Bundesregierung die Entwicklung von Quantencomputern „Made in Germany“. Bayern legte noch einmal 300 Millionen Euro drauf und startete Anfang 2022 das ehrgeizige Projekt „Munich Quantum Valley“, in dem auch Sie sich engagieren. Was passiert da gerade?
Es geht darum, die Quantentechnologie insgesamt sowie wettbewerbsfähige Quantencomputer in Bayern zu entwickeln und zu betreiben. Die beiden Münchner Universitäten und die Universität Erlangen-Nürnberg beteiligen sich, dazu die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Im Munich Quantum Valley mit seinen gut 350 Mitarbeitern laufen die Fäden zusammen. Derzeit bauen wir Quantencomputer auf drei unterschiedlichen Plattformen auf. Schon jetzt setzt das Projekt international Maßstäbe. Ich widme ihm als Berater und Koordinator inzwischen die Hälfte meiner Arbeitszeit.

Das Munich Quantum Valley hat sich vorgenommen, die Öffentlichkeit über aktuelle Themen der Quantenforschung zu informieren. Eine gute Idee?
Ich halte das für extrem wichtig. Die wissenschaftliche Arbeit und die Forscher werden von der Gesellschaft bezahlt, das Forschungsumfeld wird von ihr bereitgestellt – also haben wir auch die Pflicht zu erklären, was und wofür wir das tun.

Wie gehen Sie dabei vor? Leichte Kost ist die Quantenphysik ja nicht gerade.
Ich nehme die Leute ernst und versuche, sie dort abzuholen, wo sie gerade sind. Was ich sage, muss nicht wissenschaftlich klingen. Es sollte die Dinge so einfach wie möglich auf den Punkt bringen, darf aber nicht falsch sein. Ich benutze gern Bilder, Analogien und Beispiele. Und manchmal zitiere ich meine Mutter mit einem ihrer Lieblingssätze: „Von nix kommt nix“. Da sind wir dann mitten in der Physik und schnell bei meinen Themen.

Rainer Blatt, Professor für Experimentalphysik an der Universität Innsbruck. © C. Lackner

© C. Lackner

Rainer Blatt, Professor für Experimentalphysik an der Universität Innsbruck.

Zur Person

Rainer Blatt ist seit 1995 Professor für Experimentalphysik an der Universität Innsbruck und seit 2003 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der 1952 in Idar-Oberstein geborene Forscher studierte in Mainz Mathematik und Physik. Seine akademische Laufbahn führte ihn anschließend nach Berlin, Hamburg und Göttingen. Prägend für seine Arbeit waren Forschungsaufenthalte am Joint Institute of Laboratory Astrophysics in Boulder/Colorado bei John L. Hall, der 2005 den Physiknobelpreis erhielt.

Für seine Leistungen auf dem Gebiet der Quantenphysik erhielt Professor Blatt viele Auszeichnungen, darunter 2016 den International Quantum Communication Award und 2019, gemeinsam mit Anton Zeilinger und Peter Zoller, den Preis der chinesischen Micius Quantum Foundation. Seit 2021 koordiniert der Deutsch-Österreicher zusätzlich zu seiner Arbeit in Innsbruck das Munich Quantum Valley, eine Initiative zum Ausbau der Quantenwissenschaften in Bayern. 2021 wurde Rainer Blatt auch zum Ehrenprofessor der Technischen Universität München ernannt sowie zum auswärtigen Mitglied des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching bei München berufen. Der GDNÄ ist Professor Blatt seit Jahren als Gastredner und Autor verbunden.

 

Zur Vertiefung

Für die Festschrift zum 200-jährigen Bestehen der GDNÄ hat Rainer Blatt einen Beitrag über Quantencomputer verfasst („Mit Quanten muss man rechnen“). Der Innsbrucker Physikprofessor beschreibt darin den aktuellen Stand der Forschung und stellt die Arbeit seines Teams an der Universität Innsbruck vor.

>> „Mit Quanten muss man rechnen“ aus der Festschrift zum GDNÄ-Jubiläum (PDF)

Bei der 130. Versammlung in Saarbrücken 2018 hielt Professor Blatt einen Vortrag zum Thema „Quantenphysik – Rechenkunst mit Quantenphysik“:

>> zum Vortrag von Professor Blatt

Weitere Informationen:

RNA-Medizin. Einst unterschätzt, jetzt Hoffnungsträger

RNA-Medizin

Einst unterschätzt, jetzt Hoffnungsträger

In der Corona-Pandemie stellten mRNA-Impfstoffe ihre Wirksamkeit und Sicherheit unter Beweis. Mit ihnen beginne eine neue Ära in der Medizin, sagt der Würzburger Infektionsbiologe Jörg Vogel. Er beschreibt den Siegeszug der Ribonukleinsäure in der Therapie bei der GDNÄ-Festversammlung in Leipzig – und hier im Interview. 

Herr Professor Vogel, ein Themenschwerpunkt der Jubiläumstagung in Leipzig ist die RNA-Medizin. Was macht die neue Therapierichtung so interessant?
Die begründete Hoffnung, dass bisher unheilbare Krankheiten endlich behandelt werden können. Auslöser waren die großartigen Erfolge der mRNA-Impfstoffe in der Corona-Pandemie. Die Impfstoffe konnten nicht nur sehr schnell entwickelt werden, sie haben sich auch als hochwirksam und sicher erwiesen. Weltweit herrscht derzeit eine unglaubliche Aufbruchstimmung, manche sprechen sogar von einer medizinischen Revolution. Jetzt geht es darum, das Wirkprinzip auf möglichst viele Krankheiten zu übertragen. 

Welche Krankheiten kommen dafür infrage?
Grenzen gibt es da kaum. Die Forschung konzentriert sich aktuell auf Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aber auch andere Volkskrankheiten wie die Demenz sind mögliche Kandidaten. Und bei zahlreichen seltenen Erkrankungen, vor allem wenn sie auf Defekte in einem einzelnen Gen zurückgehen, könnte die RNA-Medizin endlich den Durchbruch bringen. Einige RNA-Medikamente sind in der EU bereits auf dem Markt und ich rechne schon bald mit vielen neuen Therapien. 

Die RNA scheint ein Alleskönner zu sein. Wie schafft sie das?
Das hat mit ihren vielen Fähigkeiten zu tun, die lange übersehen wurden. Früher konzentrierte sich fast alles auf die Messenger-RNA, kurz: mRNA, ein Botenmolekül, das genetische Baupläne aus dem Zellkern zu den Proteinfabriken im Zytosol bringt. Neben der ebenfalls schon länger bekannten tRNA, die Aminosäuren zu den Proteinfabriken, den Ribosomen, transportieren, und der rRNA, die ein Bestandteil dieser Proteinfabriken ist, hat man in den letzten Jahren viele weitere RNA-Klassen entdeckt. Sie erhielten Namen wie miRNA für micro RNA oder siRNA für small interfering RNA. Inzwischen sind mehr als ein Dutzend verschiedene RNA-Klassen bekannt, und es kommen ständig neue hinzu. Klar ist heute: RNA steuert lebenswichtige Prozesse in den Zellen und Fehler bei dieser Steuerung können Krankheiten verursachen. Oder, um ein bisschen zu übertreiben: Die RNA ist der wahre Akteur in unseren Zellen und Organen.

Impressionen vom Vorbereitungstreffen des Schülerprogramms im Juni 2022 in Leipzig.

© SciGraphix/Sandy Westermann

Die moderne RNA-Medizin nutzt unter anderem therapeutische mRNA, Antisense-Strategien und CRISPR-Cas-Systeme zur Behandlung unterschiedlicher Krankheiten.

Wie lässt sich das Wundermolekül medizinisch nutzen?
Auf zweierlei Weise: in modifizierter Form als Wirkstoff und, wenn es um körpereigene RNA geht, als Angriffspunkt für maßgeschneiderte Wirkstoffe. mRNA-Impfungen sind ein gutes Beispiel für das erste Wirkprinzip. So enthält etwa der Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer eine im Labor erzeugte mRNA-Variante des Stachelproteins von SARS-CoV-2. Nach der Impfung erzeugt der Körper diese Stachelprotein-Variante, was eine starke Immunantwort hervorruft. Der Impfstoff funktioniert als Antigen, das die Bildung von Antikörpern durch das Immunsystem anstößt. In ähnlicher Weise will man das Immunsystem mithilfe gezielt veränderter RNA zur Produktion von Antikörpern gegen Krebszellen anregen. Dazu laufen bereits etliche Studien. Man könnte auch die Lungenzellen von Mukoviszidose-Patienten mithilfe der CRISPR-Cas-Methode so verändern, dass sie ein lebenswichtiges Protein in der korrekten Form herstellen. Welche dieser Therapien sich unter medizinischen und Kosten-Gesichtspunkten durchsetzen wird, kann man heute noch nicht absehen.

Bitte erläutern Sie auch das zweite Wirkprinzip an einem Beispiel.
In der Herzmedizin wird beispielsweise daran geforscht, die Produktion krankmachender Proteine durch künstlich hergestellte siRNA zu unterbinden. Dafür werden RNA-Schnipsel im Labor erzeugt, die genau komplementär zur Sequenz der körpereigenen RNA aufgebaut sind – sogenannte Antisense-Moleküle. Die Idee ist, sie an kleine Fettbläschen zu koppeln und unter die Haut zu spritzen. Diese Liposomen sollen ins Herz gelangen, um ihre siRNA-Fracht in die Zellen einzuschleusen. Die Fracht, so der Plan, dockt an der körpereigenen RNA an und legt sie lahm. Auf ähnliche Weise könnte man nicht-kodierende RNA, die im Körper zwar keine Proteine herstellen, dafür aber viele Prozesse regeln, bei Fehlfunktionen in die gewünschte Richtung lenken. 

Was kann, kurz gesagt, die RNA-Medizin, das herkömmliche Wirkstoffe nicht können?
Ein großer Vorteil ist die Programmierbarkeit: Wirkstoffe lassen sich exakt nach Bedarf entwerfen. Ein weiterer Vorzug ist die Geschwindigkeit. Man kann ein Therapeutikum am Bildschirm in Minutenschnelle entwerfen und danach zügig herstellen, wenn die Produktionskapazität da ist. Denken wir an die mRNA-Impfstoffe, die ja sehr schnell zur Verfügung standen.

Impressionen vom Vorbereitungstreffen des Schülerprogramms im Juni 2022 in Leipzig.

© RVZ

Alt und neu in ästhetischer Verbindung: Die umgebaute und erweiterte frühere Chirurgische Klinik der Würzburger Universität beherbergt jetzt zwei Forschungszentren, das Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung und das Rudolf-Virchow-Zentrum für Experimentelle Biomedizin.

Aber bewirken RNA-Therapien auch genau das, was sie sollen?
Sie sind sehr spezifisch. Vielleicht sogar spezifischer als herkömmliche Arzneimittel, die gegen Proteine gerichtet sind. Zu tun hat das mit der exakten Basenpaarung bei Nukleinsäuren. 

Und wenn gravierende Nebenwirkungen auftreten: Lässt sich die RNA wieder zurückholen?
Das wissen wir noch nicht genau. Bisher war es nicht nötig, weil die mRNA schnell wieder aus dem Körper verschwindet. Für die Zukunft werden wir uns aber etwas überlegen müssen. Bis jetzt ist es nur eine Forschungsidee, Depots mit Ersatzproteinen im Körper anzulegen. Aber wenn das gelingt, muss man natürlich Schutzmechanismen für den Fall von Unverträglichkeiten  bereithalten. Ein prinzipielles Problem sehe ich aber nicht, denn man könnte auch hier ein Gegenmittel entwerfen. Etwa ein Anti-CRISPR-Cas-Molekül, das bei Bedarf verabreicht wird. 

Anders als heutige Medikamente ist RNA sehr instabil. Wie verhindert man, dass sie im Körper schnell zerfällt und wirkungslos bleibt?
Dafür muss man ihre chemische Struktur verändern. Ein passendes Beispiel liefert wieder der mRNA-Impfstoff. Dass er so gut wirkt, ist der Biochemikerin Katalin Karikó zu verdanken. Sie hat schon weit im Vorfeld zusammen mit dem Immunologen Drew Weissmann eine Variante der Base Uridin, das Pseudouridin, in die mRNA eingebaut. Das macht das Molekül nicht nur stabiler und effizienter, es reduziert auch das Risiko von Überreaktionen des Immunsystems. 

Eine Pionierleistung, die die rettenden Impfstoffe erst ermöglichte?
Ja, und ganz bestimmt nobelpreisverdächtig. Wenn man Versuche mit nicht-modifizierter mRNA dagegenhält, dann zeigt sich, dass es ohne diese Modifikation nicht geht. Das ist der Grund, warum manche andere Impfstoffkandidaten bisher gescheitert sind. 

Lassen Sie uns ein paar technische Fragen klären. RNA-Moleküle sind groß und sehr negativ geladen. Wie bekommt man sie im Körper dorthin, wo man sie haben will?
Bei der mRNA-Impfung funktioniert das ja sehr gut: Der in den Oberarmmuskel gespritzte Impfstoff wird im Muskel von bestimmten Immunzellen aufgenommen und führt von dort aus direkt zur Immunantwort. Es wird aber, wie schon erwähnt, auch über Depots in der Nähe von Zielorganen wie Lunge, Leber oder Nieren nachgedacht. Sprays sind ebenfalls in der Diskussion. Insgesamt ist das gerade ein großes Forschungsthema. Wichtig ist dabei immer auch die Compliance: Wie gut wird die Therapie von Patienten angenommen und wie treu bleiben sie ihr – all das spielt eine Rolle. 

Heute werden RNA-Moleküle vor allem in Lipide verpackt, um sie in die Zellen zu schleusen. Ist das die beste Methode?
Derzeit ja. Erprobt werden auch Nanocages, die man sich als Käfige aus DNA zum Transport der RNA vorstellen kann. Es kommt vor allem darauf an, die vergleichsweise großen RNA-Moleküle vor den Attacken des Immunsystems und dem Abbau durch Enzyme zu schützen – an diesen Kriterien müssen sich alle Verfahren messen lassen.  

Wie lange hält die Wirkung einer RNA-Therapie an?
Das kommt auf die Technologie an. Bei der mRNA-Therapie wird das Protein, ähnlich wie bei der Corona-Impfung, nach Verabreichung für einige Tage hergestellt – danach ist die mRNA abgebaut. Das Protein wiederum kann Tage bis Wochen im Körper existieren und seine Wirkung entfalten, bis es dann ebenfalls abgebaut wird. Ein Beispiel: Bei der Therapie der Spinalen Muskelatrophie SMA müssen die Medikamente, die die mRNA-Reifung fördern, alle zwei bis vier Monate gegeben werden. 

Wie weit ist die Erprobung am Menschen?
Mit am weitesten fortgeschritten ist eine CRISPR-Cas-Studie mit einem RNA-Wirkstoff zur Behandlung der Erbkrankheit Beta-Thalassämie. Bisher benötigen die Patienten regelmäßige Bluttransfusionen. Wenn die neue Therapie sich bewährt, ist das nicht mehr nötig. Dann produziert ihr Körper das fehlende Hämoglobin. In der klinischen Prüfung sind auch neue Impfstoffe auf mRNA-Basis, etwa gegen Influenza oder Malaria.

Impressionen vom Vorbereitungstreffen des Schülerprogramms im Juni 2022 in Leipzig.

© HIRI / Luisa Macharowsky

An der anaeroben Werkbank im Labor des Helmholtz-Instituts für Infektionsforschung mit Professor Jörg Vogel (links).

Warum ist die RNA-Medizin erst jetzt ein großes Thema geworden?
Es brauchte die Pandemie, um Druck aufzubauen. Sie hat den nötigen Schub gebracht und gezeigt, dass mRNA-Impfstoffe und die RNA-Medizin insgesamt wirksam und sicher sind.  

Sie gelten als Pionier der RNA-Medizin. Was hat Sie in diese Richtung gebracht?
Ich habe Biochemie studiert und schon als Student in molekularbiologischen Laboren gearbeitet, unter anderem in der Pflanzengenetik. Dort habe ich dann auch promoviert, und zwar über molekulare Mechanismen von katalytischen RNA-Molekülen in den Chloroplasten der Gerste.  

Seit mehr als fünf Jahren leiten Sie das Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung. Wo stehen Sie heute?
Das Institut hat sich prächtig entwickelt, und zwar parallel zur wachsenden Bedeutung der RNA-Forschung. Als wir anfingen, dachte man beim Thema Impfstoffe noch in erster Linie an Proteine als Wirkstoffe, nicht an RNA. Das hat sich in den letzten Jahren gründlich geändert. Innovationen erwartet man heute vor allem von der RNA-Forschung. An unserem Institut profitieren wir sehr von der Hochdurchsatzsequenzierung: Dadurch können wir wie mit einem Mikroskop in die Zellen hineinschauen und sehen, welche RNA gerade produziert werden. Mittlerweile sind wir auch ziemlich gut darin, die RNA so zu modifizieren, dass sie medizinisch nützlich ist. 

Ist der medizinische Nutzen ein großes Thema bei Ihnen?
Wenn es um neue Ansätze geht, ja. Aber wir sind Grundlagenforscher. Die Weiterentwicklung ist Sache der Industrie. 

Arbeitet Ihr Institut mit Pharmafirmen zusammen?
Bisher kaum, aber das soll sich ändern. Derzeit bereiten wir die erste Ausgründung vor. Es geht um RNA-basierte Diagnostik und um Tests, die viele verschiedene Erreger gleichzeitig nachweisen können. 

Gegen die gewöhnliche Erkältung ist bislang kein Kraut gewachsen. Ob die RNA-Medizin damit fertig wird?
Warum nicht? Ideen hätten da schon! 

Eine kürzere Version dieses Interviews findet sich in der Festschrift zum 200-jährigen Bestehen der GDNÄ „Wenn der Funke überspringt“, Leipzig 2022, ISBN 978-3-95415-130-1.

Impressionen vom Vorbereitungstreffen des Schülerprogramms im Juni 2022 in Leipzig.

© HIRI

Die RNA-Biologie ist sein Forschungsschwerpunkt: Professor Jörg Vogel

Zur Person

Jörg Vogel ist Professor für Molekulare Infektionsbiologie und Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg. Das Institut wird als Standort des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung zusammen mit der Universität Würzburg betrieben. Es ist das weltweit erste Institut, das RNA-Biologie und Infektionsforschung zusammenbringt. Parallel leitet Jörg Vogel das Institut für Molekulare Infektionsbiologie an der Universität Würzburg. Für seine Arbeiten zur RNA-Biologie erhielt er 2017 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Ribonukleinsäure (RNA)

Als mRNA sorgt die Ribonukleinsäure (RNA) dafür, dass die in der DNA gespeicherten Information in die lebensnotwendigen Proteine umgesetzt werden. Andere RNA-Klassen regulieren die Aktivität der Gene oder haben katalytische Funktionen. Im Aufbau ähnelt die RNA der DNA. Im Unterschied zu dieser ist sie in der Regel einsträngig, was sie zwar weniger stabil aber auch chemisch vielseitiger als DNA macht. Mit der RNA begann auf der Erde die chemische Evolution – aus ihr haben sich wahrscheinlich alle Organismen entwickelt.  

Jörg Junhold: „Wir öffnen Fenster in die Natur“

„Wir öffnen Fenster in die Natur“

Wie Jörg Junhold den Leipziger Zoo von Grund auf modernisierte und der GDNÄ in seiner Heimatstadt viele Türen öffnete. Sein Engagement macht die 200-Jahr-Feier zu einem glanzvollen Fest. 

Herr Professor Junhold, die Jubiläumsversammlung der GDNÄ naht. Was bedeutet das Naturforschertreffen für Ihren Zoo? 
Es ist eine große Ehre für uns und wir sind sehr froh, dass die GDNÄ zur 200-Jahr-Feier an ihren Gründungsort zurückkehrt. Die Versammlung findet ja in direkter Nachbarschaft statt, in der Kongresshalle am Zoo Leipzig. Da hoffen wir natürlich, dass viele Tagungsbesucher die Gelegenheit nutzen und bei uns reinschauen – alle sind herzlich eingeladen. Wir sind auch Teil des offiziellen Programms: Der traditionelle Abendempfang für die Referenten und Sponsoren der Tagung findet in unserer Tropenerlebniswelt Gondwanaland statt, in Anwesenheit des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung.

Museumsinsel Ansicht Herbst © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Die Kongresshalle, in der die GDNÄ ihr 200-jähriges Bestehen feiert, liegt direkt neben dem Zoo Leipzig. Das große helle Dach überwölbt die Tropenerlebniswelt Gondwanaland.

Sie sind nicht nur Gastgeber während der Tagung, Sie sind auch im Vorstand der GDNÄ vertreten. Wie können wir uns Ihre Arbeit dort vorstellen? 
Zwei Jahre haben wir im Vorstand auf die Versammlung hingearbeitet, mit regelmäßigen Treffen, die pandemiebedingt meistens digital stattfanden. Ich bin sehr herzlich aufgenommen worden und es hat großen Spaß gemacht, mit so vielen klugen Köpfen zusammenzuarbeiten. Als Geschäftsführer Wirtschaft war es meine Aufgabe in der Vorbereitungsphase, der GDNÄ hier in Leipzig Türen zu öffnen und Sponsoren für die Tagung zu gewinnen.

Das ist Ihnen, wenn man sich das Programm anschaut, auch gut gelungen. Was ist Ihr Geheimnis? 
Da gibt es kein großes Geheimnis. Ich bin ein begeisterter Leipziger, lebe seit 1985 in der Stadt und engagiere mich hier in vielen Gremien. Zum Beispiel im Stadtmarketing, Im Hochschulrat oder seit rund zwanzig Jahren auch im Vorstand der Kulturstiftung. Hinzu kommt: Die Leipziger lieben ihren Zoo, er wird wirklich getragen von der Bevölkerung und das strahlt dann auch auf unsere Anliegen und Projekte aus. 

Am 1. November 1997 haben Sie als Direktor des Leipziger Zoos angefangen. Das ist jetzt fast ein Vierteljahrhundert her. Wie haben Sie den Zoo damals vorgefunden? 
Er war in einer sehr schwierigen Situation. Die Tieranlagen waren völlig veraltet, die Besucherzahlen stark rückläufig und die Finanzen ein Desaster. Dem Zoo drohte die schrittweise Schließung. 

Keine rosige Ausgangslage für einen neuen Direktor. Warum haben Sie die Aufgabe trotzdem übernommen? 
Weil ich eine Riesenchance für den Zoo gesehen habe. Und es hat mich unglaublich gereizt, den Wandel der Stadt mitgestalten zu können.

Lesesaal des Archivs © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Im Leopardental geht ein Amurleopard auf Pirsch.

Wo steht Ihr Zoo heute? 
Er ist komplett umgestaltet und genießt großes Ansehen, sowohl bei den Besuchern als auch in der Fachwelt – das kann ich ohne Übertreibung sagen. Unser Zoo ist heute ein beliebter Freizeitort und wird gern für Events gebucht, von der Hochzeit über elegante Empfänge bis hin zu Firmenveranstaltungen. All das erhöht die Attraktivität Leipzigs als touristisches Ziel, als Messestadt und wirtschaftliches Zentrum weit über die Grenzen Mitteldeutschlands hinaus.   

Wie ist das gelungen? 
Eine zentrale Rolle spielt unser Masterplan „Zoo der Zukunft“. Als ich meinen Posten 1997 antrat, habe ich von der Stadt Leipzig etwas Zeit erbeten, um ein Erneuerungskonzept zu entwickeln. Das haben wir dann mit einem kleinen Team in gut zwei Jahren erarbeitet und am 14. Juni 2000 vorgestellt. Diesen Tag werde ich nie vergessen: Unsere Vision von einem modernen Zoo, der Tierbedürfnissen auf höchstem Niveau gerecht wird, Besuchern ein Fenster in die Natur öffnet und gleichzeitig als exzellenter Gastgeber überzeugt, wurde vom Stadtrat einstimmig angenommen. Für uns war das ein enormer Ansporn und seitdem setzen wir den Masterplan Schritt für Schritt um.

Lesesaal des Archivs © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

In der 2011 eröffneten Tropenerlebniswelt Gondwanaland leben rund zweihundert Tierarten aus Asien, Afrika und Südamerika.

Was haben Sie erreicht, was bleibt zu tun?
Das meiste ist zum Glück geschafft. Ein Meilenstein war 2011 die Eröffnung der Tropenerlebniswelt Gondwanaland. Das ist eine riesige Halle mit vielen Tausend tropischen Pflanzen, fast zweihundert exotischen Tierarten und einem urwüchsigen Regenwald, wie er den Urkontinent Gondwana prägte. Gondwanaland ist unser Vorzeigeprojekt und hat uns internationale Anerkennung gebracht. Ein anderes Beispiel ist die weltweit einzigartige Menschenaffenanlage Pongoland, die wir in Kooperation mit dem ebenfalls in Leipzig beheimateten Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie geschaffe haben. Dieses Jahr konnten wir das neugestaltete Aquarium eröffnen und 2023 werden wir ein komplett modernisiertes Terrarium vorstellen. Intensiv gearbeitet wird auch am Feuerland-Projekt mit einem begehbaren Unterwassertunnel, in dem die Besucher Pinguine und Robben wie bei einem Tauchgang erleben können. Den Abschluss wird die Asiatische Inselwelt mit zahlreichen Volieren und einer Kranich-Anlage bilden.

Erlauben Sie uns einen Blick hinter die Kulissen: Wie entstehen solche Projekte?
Danke für die Frage, denn diesen kreativen Prozess liebe ich am meisten. Wir haben ein kleines Entwicklungsteam, bestehend aus Tierärzten, Biologen und Architekten. Steht ein neues Vorhaben an, schauen wir uns weltweit um, lassen uns von Lösungen anderer Zoos inspirieren und entwickeln eigene Vorstellungen. Geld spielt anfangs keine Rolle, die Ideen sollen erst einmal sprudeln – zurechtstutzen kann man die Pläne dann immer noch.

In der Öffentlichkeit wird heute viel über Biodiversität und Artenschutz diskutiert. Welche Rolle spielen diese Themen für Ihren Zoo?
Eine sehr große – nicht nur für uns, sondern für moderne Zoos in aller Welt. Die Lebensräume für wild lebende Tiere schrumpfen überall und entsprechend wächst die gesellschaftliche Bedeutung von Zoos als Zentren des Natur- und Artenschutzes. Unsere Populationen sind selbsterhaltend, was bedeutet: Wir entnehmen keine Tiere aus der freien Wildbahn mehr, sondern managen unsere Tierbestände durch sogenannte Erhaltungszuchtprogramme, an denen sich Zoos weltweit beteiligen. Für viele bedrohte Arten beherbergen wir Reservepopulationen und verfügen über die nötige Expertise zur Behandlung kranker Tiere, sei es im Zoo oder in der Wildnis. Und, ganz wichtig: Wir sensibilisieren die Menschen für die Biodiversitätskrise und ermutigen sie, etwas dagegen zu tun.

Engagiert sich Ihr Zoo auch wissenschaftlich?
Ja, das ist uns sogar ein großes Anliegen. Wir betreiben langfristige Artenschutzprojekte, die intensiv wissenschaftlich begleitet werden. Zum Beispiel in Vietnam, im Nationalpark Cuc Phuong. Dort bereiten wir Languren, die aus illegalen Haltungen stammen und beschlagnahmt wurden, auf die Auswilderung vor. Diese blätterfressenden Primaten sind endemisch in Vietnam beheimatet und inzwischen selten geworden. In Chile unterhalten wir gemeinsam mit der Universität Concepción eine Zuchtstation für eine bedrohte Froschart. Insgesamt verstehen wir uns als wissenschaftlich arbeitender Tiergarten, der von Biologen und Tierärzten als gemeinnützige Einrichtung geleitet wird und damit den Qualitätskriterien des Weltzooverbands entspricht. Kommerziell orientierte Safariparks erfüllen diese Standards nicht.

Lesesaal des Archivs © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Tauchgang im Elefantentempel Ganesha Mandir.

Sie haben den internationalen Zooverband geleitet, gehören dem Vorstand des Europäischen Zooverbandes an und stehen jetzt dem deutschen Zooverband vor. Was bringt Ihnen diese Arbeit?
Sie erweitert den Horizont, schärft den Blick für das Wesentliche und führt zu vielen guten Kontakten. Inzwischen geht hier bei uns in Leipzig die internationale Zoowelt ein und aus ­– das hat nicht zuletzt mit der Gremienarbeit zu tun.

Wo rangiert der Leipziger Zoo heute im internationalen Vergleich?
Wir gehören zur Spitzengruppe. Im europaweiten Zoo-Ranking des britischen Experten Anthony Sheridan liegen wir aktuell auf Platz zwei hinter Wien und vor Zürich und sind in Deutschland die Nummer eins.

In ein paar Jahren wird der Masterplan vollendet sein. Ist der 150. Geburtstag Ihres Zoos im Jahr 2028 das nächste Großprojekt?
Wir werden den Geburtstag natürlich groß feiern, zusammen mit unseren Besucherinnen und Besuchern. Ideen gibt es schon viele – aber noch wird nichts verraten.

Matthias Röschner © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Professor Jörg Junhold

Zur Person

Professor Jörg Junhold ist seit 1997 Geschäftsführer und Direktor des Zoo Leipzig. Der heute 58-Jährige stammt aus der brandenburgischen Stadt Ortrand und studierte in Leipzig Veterinärmedizin, wo er 1994 promoviert wurde. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete der approbierte Tierarzt bereits bei Europas größtem Hersteller von Tierfuttermitteln, der Effem GmbH – zunächst im Außendienst, später im Marketing. 1997 wurde er zum Leiter des Zoos Leipzig bestellt. Sein im Juni 2000 vorgestelltes Strategiekonzept „Zoo der Zukunft“ ist bis heute wegweisend. Seit 2013 ist Jörg Junhold Honorarprofessor an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Verdienstorden des Freistaats Sachsen. Junhold war Präsident des internationalen Dachverbands größerer Zoos und Aquarien, der World Association of Zoos and Aquaria, und dessen europäischem Pendant. Seit 2019 ist er Präsident des Verbandes der Zoologischen Gärten Deutschlands e.V.

Archivplakat © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Schimpansenjungtiere im Pongoland

Zoo Leipzig in Zahlen 

Gründung: im Jahr 1878 von Ernst Pinkert
Fläche: 27 Hektar, davon 2,1 Hektar Wasserfläche
Mitarbeiter: rund 260
Tierarten: etwa 630
Investitionen: 200 Millionen Euro (2000-2021)
Besucherzahlen: rund zwei Millionen im Jahr
(Stand: Anfang 2022)

Weitere Informationen:

Archivplakat © Deutsches Museum

© Zoo Leipzig

Herumtollende Löwenjungtiere.