Thomas Mettenleiter: „Danach konnte mich nichts mehr schrecken“

„Danach konnte mich nichts mehr schrecken“

BSE, Vogelgrippe, Corona: Wie der renommierte Virologe Thomas Mettenleiter zur Bewältigung großer Seuchen beigetragen hat, was ihn 27 Jahre auf der Ostseeinsel Riems hielt und was sein Publikum bei der GDNÄ-Versammlung 2024 erwartet.

Herr Professor Mettenleiter, als langjähriger Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, hatten Sie es mit weltbewegenden Seuchen zu tun, denken wir nur an die BSE-Krise, an Vogelgrippe und Corona-Pandemie. Welche Herausforderung war die größte? 
Für mich persönlich ganz eindeutig die BSE-Krise. Danach konnte mich nichts mehr schrecken. Ich war noch relativ neu im Amt, als Ende November 2000 das erste in Deutschland geborene und aufgewachsene Rind positiv getestet wurde. Die Aufregung war riesengroß. Wir wussten damals nur wenig über die auslösenden Prionen, sollten aber möglichst sofort kompetent Auskunft geben. Schon einige Zeit vorher war eine informelle Expertenkommission unter meinem Vorsitz eingesetzt worden. Im April 2000 empfahlen wir der Bundesregierung, sich auf den ersten Fall von einheimischer BSE vorzubereiten. Das ist dann leider nicht geschehen.

Dennoch konnte die BSE-Krise rasch beendet werden. Wie ist das gelungen?
Entscheidend waren das auf EU-Ebene erlassene Verbot zur Verfütterung etwa von Tiermehl, die Herausnahme von Risikomaterial aus der Lebensmittelkette und die umfangreiche Testung der geschlachteten Rinder abhängig vom Alter. Danach gingen die Fallzahlen rasch zurück. In Deutschland infizierten sich nach unserer Kenntnis nur noch zwei Tiere, die im März und Mai 2001 zur Welt gekommen waren. Es war eine äußerst turbulente Zeit, in der mit Andrea Fischer und Karl-Heinz Funke gleich zwei Bundesminister zurücktraten. In diesen Jahren habe ich gelernt, wie wichtig die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Medien ist. Zum Glück wurden die von der Wissenschaft vorgeschlagenen Maßnahmen damals schnell umgesetzt und zeigten Erfolg. Insofern ist die BSE-Krise ein gelungenes Beispiel für eine wissenschaftsbasierte Seuchenbekämpfung.

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

© Friedrich-Loeffler-Institut

Eine Wissenschaftlerin arbeitet im Vollschutzanzug im Labor der höchsten Biosicherheitsstufe 4 Zoonosen. Hier wird zu Erregern wie Ebola- und Nipah-Viren geforscht. Der Anzug ist über ein Ventil an die Luftversorgung angeschlossen, die ständig Luft zuführt. Dadurch wird auch der Anzug aufgeblasen, selbst bei einem kleinen Loch würde über den austretenden Luftstrom nichts nach innen gelangen. Die Wissenschaftlerin kontrolliert Zellkulturen an einem Bildschirm.

Wie gefragt war Ihre Expertise in der Corona-Pandemie?
In den drei COVID-19-Jahren standen andere Institute im Zentrum der Aufmerksamkeit von Politik und Medien. Allerdings wurden uns am FLI gleich zu Beginn der Pandemie essenzielle Fragen gestellt: Sind landwirtschaftliche Nutztiere in Deutschland empfänglich für SARS-CoV-2? Ist damit unsere Nahrungsmittelversorgung gefährdet und stellen Nutztiere ein potenzielles Reservoir dar? Dank unserer modernen Forschungsinfrastruktur auf der Insel Riems mit Hochsicherheits-Isolierställen konnten wir sofort testen, ob zum Beispiel Rinder, Schweine und Hühner empfänglich für den Erreger sind. Zusätzlich haben wir damals die Interaktion des Erregers mit anderen Tieren wie Mäusen, Goldhamstern, Flughunden, Frettchen und Marderhunden untersucht, um mögliche Reservoire oder Modelle für die menschliche Infektion zu finden und zu charakterisieren.

Was haben Sie herausgefunden?
Rinder, Schweine und Hühner waren nicht oder nur ganz geringgradig infizierbar und gaben den Erreger auch nicht weiter. Insofern bestand also weder eine Gefährdung hinsichtlich der Nahrungsversorgung noch mit Blick auf die Entstehung eines neuen Reservoirs. Flughunde, Frettchen und Marderhunde hingegen erwiesen sich als empfänglich für den Erreger, erkrankten aber nicht und waren trotzdem in der Lage, den Erreger effizient weiterzugeben. Das passt zu dem, was wir über Reservoirtiere und Brückenwirte wissen. Hamster und spezielle genetisch veränderte Mäuse erkrankten schwer. Insbesondere Frettchen bildeten die weitgehend leichte, nur die oberen Atemwege betreffende humane Infektion ab, während Goldhamster und diese Mäuse das klinische Bild einer schweren COVID-19 zeigten.

Derzeit wird viel über die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Corona-Krise diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Wir sollten das Geschehene auf jeden Fall objektiv analysieren, um daraus für die Zukunft zu lernen. Gerade in der heißen Phase mussten viele Entscheidungen schnell und unter unsicheren Bedingungen getroffen werden – das sollte immer mitbedacht werden. Wichtig für die Zukunft ist eine einheitliche Politik für das ganze Land, den föderalen Flickenteppich sollten wir in solchen Situationen vermeiden. Die Corona-Jahre haben aber auch gezeigt, wie immens wichtig Grundlagenforschung und moderne Forschungsinfrastrukturen sind. Ihnen verdanken wir die hochwirksamen mRNA-Impfstoffe, an denen ja schon lange Zeit geforscht worden war, sowie zahlreiche Erkenntnisse, die uns halfen, die Krise zu überstehen. Damit das auch in Zukunft gelingt, sind ausreichende Fördermittel nötig – nicht nur für den Aufbau, sondern auch für den Unterhalt der Forschungseinrichtungen, für Personal und Ausbildung.

Die nächste Pandemie kommt bestimmt, heißt es oft. Aus welcher Ecke drohen neue Gefahren?
Wir sind derzeit in einer interpandemischen Phase, so viel ist klar. Doch von wo aus welche Gefahren drohen, kann niemand genau sagen. Was wir wissen, ist, dass drei Viertel der neu auftretenden Infektionen des Menschen aus dem Tierreich kommen und dass Erreger wie das Coronavirus weiterhin zwischen Tier und Mensch hin- und herspringen. Nie aus den Augen verlieren dürfen wir die Influenzaviren: Sie sind hochvariabel und passen sich schnell an neue Gegebenheiten an. Zum Glück gibt es ein weltumspannendes Beobachtungssystem für Grippeviren unter der Ägide der Weltgesundheitsorganisation WHO. Etwas Ähnliches brauchen wir auch zur Überwachung von Tierpopulationen, um Pandemiegefahren schnell zu entdecken.  Helfen könnte hier ein internationales Abkommen zur Pandemic Prevention, Preparedness and Response. Darüber wird derzeit  unter Leitung der WHO verhandelt und ich bin immer noch vorsichtig optimistisch, dass die Mitgliedstaaten sich darauf einigen können. Das wäre auch ganz im Sinne des One-Health-Konzepts, das sich immer mehr durchsetzt und das den Menschen als Teil des Tierreichs in einer gemeinsamen Umwelt versteht.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Art der Tierhaltung, um die es auch am Friedrich-Loeffler-Institut geht. Welche Trends sehen Sie in diesem Bereich?
Der Blick ändert sich, das Wohlergehen des Tieres gewinnt an Bedeutung. In der Nutztierhaltung rückt die Qualität gegenüber der Quantität in den Vordergrund. In welchem Umfang und in welchem Zeitraum dies geschieht, ist auch eine Frage der Finanzierung und  letztlich eine politische Entscheidung. Das gilt ebenso für ein anderes Thema: die stille Pandemie der Antibiotika-Resistenzen. Begünstigt wird sie durch den übermäßigen Einsatz von Antibiotika in allen Bereichen. In Deutschland ist ihr Einsatz zur Wachstumsförderung in der Tierhaltung verboten, aber in vielen Ländern ist diese Praxis noch üblich. Es geht aber nicht nur um Tiere, auch der Einsatz beim Menschen muss zielgerichteter und mit mehr Zurückhaltung erfolgen. 

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Friedrich-Loeffler-Institut

Am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) gibt es zwei Tierstalleinheiten der Biosicherheitsstufe 4 Zoonosen, auch hier sind Vollschutzanzüge Vorschrift. In Europa hat derzeit nur das FLI solche Tierställe, weltweit sind es eine Handvoll, etwa in Kanada und Australien

 

Sie sind in der Wendezeit als West-Professor nach Ostdeutschland gegangen – und dort geblieben. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Anfangs ist man mir mit interessierter Distanz, aber auch mit Neugierde und hohen Erwartungen begegnet. Die Distanz hatte damit zu tun, dass ich anders als die Institutsleiter vor mir kein Tierarzt bin, sondern Biologe. Außerdem war ich noch recht jung, als ich 1994 mit meiner Tübinger Arbeitsgruppe auf die Insel Riems kam. Im Zuge der Wende waren die Institute von 850 auf 162 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschrumpft. Die Infrastruktur war marode. In meiner vielleicht etwas jugendlichen Unbekümmertheit hat mich das aber nicht abgeschreckt, sondern herausgefordert. Was mir sehr half, waren die zahlreichen motivierten Kolleginnen und Kollegen auf allen Ebenen des Instituts, die viel Fachwissen und Erfahrung besaßen. Es war zwar ein längerer Weg, aber heute spielt das Institut wissenschaftlich und infrastrukturell in der Champions League des Fachgebiets mit. Seine Entwicklung zählt  sicher zu den ostdeutschen Erfolgsgeschichten, wie sie meine Greifswalder Kollegen Michael Hecker und Bärbel Friedrich in ihrem Buch und im Interview auf dieser Website schildern. Für mich ist das Institut ein Lebenswerk und ich bin glücklich, das Privileg bekommen zu haben, die Tradition des Mitentdeckers der Viren, Friedrich Loeffler, fortführen zu können.   

Ihr großes Forschungsthema, die Tierviren, beschäftigt Sie seit Langem. Wie kamen Sie auf das Thema?
Der Auslöser war Hoimar v. Ditfurths Geschichte der Evolution „Am Anfang war der Wasserstoff“. Meine Eltern schenkten mir das Buch 1972 und ich habe es mit großer Begeisterung gelesen. Besonders fasziniert war ich von einer Abbildung, die Bakteriophagen darstellt, also Viren, die Bakterien befallen. Das war der Keim für meine Karriere – und begeisterter Virologe bin ich immer noch.

Das klingt nicht nach Ruhestand, in dem Sie sich offiziell seit fast einem Jahr befinden.
Stimmt, ich bin immer noch gut beschäftigt, auch wenn ich nicht mehr bis zu 14 Stunden im Institut verbringe. Aber alles in allem habe ich doch wieder fast einen Vollzeitjob und manchmal wundere ich mich, wie das früher sozusagen nebenbei ging. Eine neue Erfahrung für mich sind Vorträge vor Schülern über Virologie und One Health, zum Beispiel letztes Jahr in Göttingen und in den nächsten Wochen in Greifswald und im oberschwäbischen Sigmaringen, meiner alten Heimat. In der Hamburger Wissenschaftsakademie leite ich eine Arbeitsgruppe zum Thema One Health und in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina stehe ich der Sektion Veterinärmedizin vor. Als Wissenschaftsberater unterstütze ich mehrere UN-Organisationen und die Weltorganisation für Tiergesundheit im One Health High-Level Expert Panel. Dazu kommen weiterhin die Hochschullehre und Fachvorträge zu meinen Kernthemen.

Bei der GDNÄ-Versammlung 2024 in Potsdam werden Sie einen Vortrag über Klimawandel und Infektionskrankheiten halten. Verraten Sie uns ein paar Details?
Ich werde das One-Health-Konzept näher vorstellen, auch mit seiner Geschichte, denn brandneu ist es keineswegs. Es wird zudem um Krankheitserreger, insbesondere Viren, gehen, die sich durch den Klimawandel weiter ausbreiten. Auch von sogenannten Vektoren, das sind Infektionsüberträger wie zum Beispiel Stechmücken und Zecken, die von klimatischen Änderungen beeinflusst werden, wird die Rede sein. Die ganze Entwicklung hat eine unheimliche Dynamik und die versuche ich vor Augen zu führen.

Marion Merklein © FAU

© Friedrich-Loeffler-Institut

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Thomas Mettenleiter war bis 2023 Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit.

Zur Person

Thomas Christoph Mettenleiter ist Virologe und Molekularbiologe. Von 1977 bis 1982 studierte er Biologie in Tübingen und promovierte über Herpesviren in Schweinen. Nach einem Forschungsaufenthalt in Nashville, USA, habilitierte er sich an der Universität Tübingen für das Fachgebiet Virologie. Nach der Wende ging er an das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit (FLI) auf der Insel Riems. Dort leitete er von 1994 bis 2019 das Institut für Molekulare Virologie und Zellbiologie. 1996 übernahm er die Leitung des gesamten FLI. 1997 wurde er zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Greifswald ernannt, 2019 zum Honorarprofessor an der Universität Rostock. Nach 27 Jahren im Präsidentenamt trat er im Juni 2023 in den Ruhestand.

Mettenleiters Forschungsgebiet sind Virusinfektionen von Nutztieren. Seine Arbeiten trugen wesentlich zur ersten Entwicklung von gentechnisch veränderten Lebendimpfstoffen und zur wirksamen Bekämpfung und Ausrottung einer hochansteckenden, virusbedingten Seuche, der Aujeszkyschen Krankheit bei Schweinen bei.

Für seine Leistungen wurde Thomas C. Mettenleiter vielfach geehrt. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Königlich Belgischen Akademie für Medizin. Für sein Wirken im Bereich der Tierseuchenforschung wurde er unter anderem im Mai 2023 mit der Goldmedaille der Weltorganisation für Tiergesundheit WOAH und im Januar 2024 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Marion Merklein © FAU

© Friedrich-Loeffler-Institut

Das Gelände des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Ostsee-Insel Riems. Neben dem Institut gibt es noch ein kleines Wohngebiet auf der Insel.

Zum FLI

Das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit (FLI), ist eine selbstständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Neben dem Hauptsitz auf der Insel Riems im Greifswalder Bodden gibt es vier weitere Standorte in Braunschweig, Celle, Jena und Mariensee/Mecklenhorst. Insgesamt zwölf Fachinstitute mit rund 800 Beschäftigten widmen sich sowohl grundlagen- als auch praxisorientierten Themen. 

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Gesundheit und das Wohlbefinden landwirtschaftlicher Nutztiere und der Schutz des Menschen vor Zoonosen, also zwischen Tier und Mensch übertragbaren Infektionen. Zu diesem Zweck entwickelt das FLI Methoden zur besseren und schnelleren Diagnose sowie Grundlagen für moderne Präventions- und Bekämpfungsstrategien. Zur Verbesserung des Wohlbefindens landwirtschaftlicher Nutztiere und im Interesse qualitativ hochwertiger Lebensmittel tierischer Herkunft werden am FLI tierschutzgerechte Haltungssysteme konzipiert und erprobt. Wichtige Ziele sind der Erhalt der genetischen Vielfalt bei Nutztieren und die effiziente Verwendung von Futtermitteln.

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Michael Hecker und Bärbel Friedrich: „Es ist eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte“

„Es ist eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte“

Er forschte lange in der DDR, sie in der BRD: In ihrem jüngst erschienenen Buch widerlegen die Mikrobiologen Michael Hecker und Bärbel Friedrich die These von der Kolonisierung der Wissenschaft in Ostdeutschland durch den Westen.

Es ist 35 Jahre her, doch an den 9. November 1989 erinnern sich viele Menschen noch genau. Wie haben Sie, Frau Professorin Friedrich, Herr Professor Hecker, das Ereignis erlebt?
Friedrich: Ich war in Berlin und habe die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Am nächsten Tag nahm ich mit meiner Arbeitsgruppe an einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus teil. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, hieß es da – die Stimmung war ergreifend. Wir hatten das Gefühl, direkt am Puls der Geschichte zu sein.
Hecker: Ich kam aus Bayreuth, saß im Zug nach Greifswald und wusste von nichts. Erst zu Hause erfuhr ich von meiner Frau, was in Berlin passiert war.

Sie waren am Tag des Mauerfalls in der Bundesrepublik. Wie kam es dazu?
Hecker: Das war wirklich ein kurioser Zufall. In den fast zwanzig Jahren als Forscher in der DDR durfte ich nur zwei Mal in den Westen reisen, um Vorträge zu halten und Kollegen zu treffen. Ich war ja nicht in der Partei und kein Reisekader. Das erste Mal war ich im Sommer 1989 in Hamburg. Das zweite Mal hatten Kollegen mich für Anfang November an die Universität Bayreuth eingeladen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet dann die Mauer fallen würde.

Wie haben Sie die Tage nach dem 9. November in Erinnerung?
Hecker: In meinem Institut waren Aufregung und Aufbruchstimmung riesengroß, die Situation war aufgeheizt. Niemand wusste, was jetzt kommt.
Friedrich: Mir unvergesslich sind der Trabikorso auf dem Kudamm und eine Radtour über die Glienicker Brücke nach Potsdam. Der Kalte Krieg ist zu Ende, dachten wir, die Stimmung war euphorisch.

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

© Peter Binder

Zu Besuch in Greifswald: Anfang der 1990er-Jahre besuchten Bärbel Friedrich und ihr Mann Cornelius Friedrich das Labor von Michael Hecker (rechts). Im Gespräch erläuterte der Greifswalder Mikrobiologe unter anderem eine frühe Methode zur Trennung von Proteinen.

Was passierte in der Wissenschaft?
Friedrich: Wir haben sofort unsere ostdeutschen Kollegen eingeladen, zu Institutsbesuchen und zur Jahrestagung der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, VAAM. Sie fand im März 1990 zufällig in Berlin statt.
Hecker: Als letzter Präsident der DDR-Gesellschaft für Mikrobiologie durfte ich bei der betreffenden VAAM-Tagung ein Grußwort halten, bei dem mir – ich war emotional höchst angespannt – mehrfach die Stimme versagte. Nur ein Jahr später wurde auf der Folgetagung   in Freiburg die Vereinigung beider Gesellschaften vollzogen. 

Über die Wende in der Wissenschaft ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Was ist das Besondere an Ihrem neuen Buch?
Hecker: Bei uns steht die Forschung an den Universitäten im Mittelpunkt, vor allem die Entwicklung in den Lebenswissenschaften. Unser Buch beschreibt, wie es gelang, die total abgehängten Lebenswissenschaften in Ostdeutschland überraschend schnell auf internationales Niveau zu bringen. Es ist viel Negatives über die allgemeine Entwicklung seit der Wende geschrieben worden. Wir stellen ein positives Beispiel vor, eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte. Auch diese verdient gehört werden.
Friedrich:  Für uns ist die Wissenschaft ein Paradebeispiel für gelungenes Zusammenwachsen von Ost und West. Das ist eine der wichtigsten Aussagen unseres Buches. Aktuell ist die Diskussion über die Wissenschaft an ostdeutschen Universitäten in eine Schieflage geraten. Uns geht es darum, sie ins Lot zu bringen.   

Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Thema zurückkommen, die drei Phasen skizzieren, die Sie in Ihrem Buch ausführlich beschreiben: die Jahre von 1965 bis zur Wiedervereinigung, die 1990er-Jahre als Transformationsphase und die Zeit der Konsolidierung von 2000 bis in die Gegenwart. Wie stand es um die DDR-Mikrobiologie vor 1989, Herr Hecker?
Hecker: Wir saßen hinter der Mauer und blickten voller Neid in den Westen, wo die großen Entdeckungen in der Biologie gemacht wurden. Uns fehlten die Geräte dafür, das Know-how, das ganze Umfeld. Aber wir hatten hervorragende junge Leute, mit denen wir trotz der schlechten Bedingungen leidenschaftlich geforscht haben. Es gab viele interessante, stimmungsvolle Tagungen, an die ich mich gern erinnere. Zum Beispiel auf der Insel Hiddensee. Dort hatten wir im Sommer 1985 wegen der fehlenden Chemikalien die Gentechnik der DDR zu Grabe getragen und in einer Urne im Namen des Vaters, des Klones und des Heiligen Splicers am Strand beerdigt.
Friedrich: Ich bin ein Kind der Achtundsechziger und habe die Studentenunruhen miterlebt. Göttingen war damals das Mekka der deutschen Mikrobiologie und ein Sprungbrett nach Amerika. Am MIT erlernte ich die neuesten Methoden der Molekularbiologie und erlebte ein offenes, gleichwohl kompetitives Umfeld. Als ich Ende 1976 nach Deutschland zurückkam, musste ich kämpfen: Es gab kaum Stellen für Nachwuchswissenschaftler und nur begrenzte Forschungsmittel. Der Wettbewerb war hart.
Hecker: Das haben wir damals gar nicht so mitbekommen. Die sitzen im Paradies und wir draußen vor der Tür – so dachten wir.
Friedrich: Ich hatte dann schließlich Glück und entschied mich für eine Professur an der Freien Universität Berlin. Dort begann ich 1985 mit dem Aufbau einer neuen naturwissenschaftlich ausgerichteten Mikrobiologie. Die Studenten waren sehr motiviert, es war eine gute, spannende Zeit. 

Mit dem Mauerfall begann die Transformationsphase. Wie kam es, Herr Hecker, dass Sie Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Greifswald wurden?
Hecker: Man hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen. Eigentlich wollte ich hinaus in die Welt, um Anschluss an die moderne Forschung zu gewinnen. Stattdessen musste ich helfen, unseren Universitätsbetrieb nach bundesdeutschem Muster umzustrukturieren. Es waren vier anstrengende Jahre. Die Mehrheit der Professoren wurde nicht übernommen, manche aus Altersgründen, andere wegen fachlicher Defizite oder weil die Erkenntnisse der Ehrenkommission dagegen sprachen. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften gab es viele Entlassungen. Bei der anschließenden Neubesetzung von Stellen ähnelte das Bild in Greifswald dem an den meisten ostdeutschen Universitäten: Etwa zwei Drittel der Neuberufenen waren Ostdeutsche, darunter auch habilitierte Nachwuchswissenschaftler. In den Geisteswissenschaften waren es deutlich weniger. Hätten wir mehr qualifizierte Bewerber aus Ostdeutschland gehabt, wäre der Anteil wahrscheinlich noch höher ausgefallen. Dennoch war es dringend notwendig, dass Kollegen aus dem Westen mit ihren internationalen Erfahrungen zu uns kamen. Von einer Kolonisierung des Ostens durch den Westen kann in der Bilanz keine Rede sein.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Gestaltung: Sabine Schade

Wachsende Reputation: Nach der Wende wurden die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe Hecker immer häufiger in internationalen Publikationen zitiert.

 

In dem Bestseller des Leipziger Literatur-Professors Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ klingt das aber ganz anders.
Hecker: Herr Oschmann spricht mit seinem Buch enttäuschte Ostdeutsche an, er will provozieren. Aber wenn es um die Wissenschaften geht, hat er nicht den Überblick. Er schreibt aus der Perspektive eines Geisteswissenschaftlers. Auf die Lebenswissenschaften und die Medizin treffen die pauschalisierenden Aussagen nicht zu. Er schreibt beispielsweise, dass man Ostdeutsche bei den Sekretärinnen oder Technikern, aber kaum bei den Professoren findet.  Er habe seine ostdeutsche Identität leugnen müssen, um im Westen als Wissenschaftler akzeptiert zu werden, heißt es in dem Buch – so etwas ist mir niemals passiert. Unfug ist die Behauptung, der Osten sei im Wissenschaftsbereich vom Westen überrollt worden. Die Zahlen aus dem DFG-Förderatlas belegen vielmehr, dass die in Ostdeutschland eingesetzten Fördermittel ganz und gar den Aufwendungen für westdeutsche Universitäten entsprechen.

Frau Friedrich, Sie haben die Wendezeit in Berlin erlebt, erst im Westteil der Stadt, dann im Osten. Wie erinnern Sie diese Jahre?
Friedrich: Das Geld war in Anbetracht der Herausforderungen durch die Vereinigung beider Stadtteile knapp, der Zeitdruck groß. Es gab dramatische Kürzungen, auch die Westberliner Universitäten mussten Federn lassen. An der Humboldt-Universität wurden bis 2010 von rund 500 Professorenstellen etwa 350 Stellen nach Ausschreibung neu besetzt – immerhin 220 der neuen Stelleninhaber stammten aus dem Osten.

Oft heißt es, das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem sei eins zu eins auf den Osten übertragen worden. Stimmt das?
Friedrich: Anfangs war es so, es musste ja alles sehr schnell gehen. Aber es gab im Westen auch schon vor der Wiedervereinigung einen großen Reformstau. In den 1990er-Jahren kam es dann endlich zu Reformen, auch infolge des Bologna-Prozesses. Gegen Ende der Dekade floss mehr Geld ins Wissenschaftssystem und die DFG konnte die Vorläufer der Exzellenzinitiative entwickeln, die DFG-Forschungszentren, und später dann die Exzellenzcluster. Ich war damals Vizepräsidentin der DFG und habe dort viel Aufgeschlossenheit für die Ostuniversitäten erlebt. Auch im Wissenschaftsrat und in Forschungsausschüssen des Bundes war die Hilfsbereitschaft gegenüber Ostdeutschland groß. Rückblickend betrachtet gab es in dieser Phase große Veränderungen im gesamtdeutschen Wissenschaftssystem.

Bitte skizzieren Sie kurz die Entwicklung in Ihren Bereichen seit 2000, in der Phase der Konsolidierung.
Hecker Die jungen Wissenschaftler an meinem Institut, die unmittelbar nach 1990 mit Mitteln der DFG in die Welt ausschwärmten, brachten endlich die uns fehlenden Expertisen nach Greifswald. Mit dem neuen Wissen und in gutem Miteinander mit Mikrobiologen aus ganz Europa – Bärbel Friedrich, Jörg Hacker und viele andere eingeschlossen – haben wir ein Referenzlabor für mikrobielle Proteomics aufbauen können.  So konnten die im Osten über viele Jahre abgehängten Universitäten sehr zügig nach internationalen  Standards arbeiten.
Friedrich: Auch für meine Arbeitsgruppe war diese Zusammenarbeit äußerst fruchtbar. Wir waren in große Netzwerke zur Genomforschung an Mikroorganismen eingebunden. Es kam zu vielen gemeinsamen Publikationen. In Greifswald hat das Krupp-Wissenschaftskolleg die Ost-West-Zusammenarbeit tatkräftig unterstützt. Die Gründung des Kollegs war im Jahr 2000 von der Essener Krupp-Stiftung initiiert worden. Ein besonderes Ereignis war der Aufbau eines Doktorandenkollegs zusammen mit Israel.

Im aktuellen Exzellenzwettbewerb haben die ostdeutschen Universitäten deutlich aufgeholt. Zehn Erstanträge für Exzellenzcluster wurden positiv bewertet – so viele wie nie zuvor. Braucht es eine Generation, um in der Oberliga mithalten zu können?
Hecker: In der Breite mag das so sein. Aber mancherorts ging es deutlich schneller. Dresden ist schon seit der Wende ein wissenschaftlicher Leuchtturm. Auch Jena mit seinen hervorragenden außeruniversitären Instituten holte zügig auf. Beide Standorte behaupten sich schon länger sehr gut im Exzellenzwettbewerb. Dabei ist zu betonen, dass die Forschungsprojekte anfangs meist von neu Berufenen aus den alten Ländern geprägt wurden. Inzwischen ist jedoch eine neue Generation herangewachsen, der die so häufig strapazierte Ost-West-Debatte fremd ist. Viele von ihnen konnten sich nach der Promotion in renommierten Laboratorien weltweit fachlich profilieren. Sie erhalten hochattraktive Stellenangebote und ihre Lebensläufe ähneln denen im Westen. So löst sich das Thema Ost-West mit der jungen Generation zunehmend auf.

In diesem Jahr stehen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an. Die AfD dürfte in allen drei Ländern gut abschneiden. Welche Folgen hätte das für die Wissenschaft?
Friedrich: Es könnte katastrophal werden. Denn mit einem starken Einfluss der AfD würden Freiheit und Internationalität der Wissenschaft stark eingeschränkt werden – und gerade sie sind die Grundlagen für erfolgreiche Forschung. Die AfD leugnet den Klimawandel und die Corona-Fakten. Mit einem modernen, evidenzbasierten wissenschaftlichen Weltbild ist das nicht vereinbar.
Hecker: Ich sehe das ähnlich. Ein Verbot der Partei würde nicht viel bringen. Wir müssen der AfD argumentativ begegnen und die Menschen von der Notwendigkeit und vom Nutzen einer freien Wissenschaft überzeugen.

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Prof. Dr. Michael Hecker

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Prof. Dr. Bärbel Friedrich

Zu den Personen

Bärbel Friedrich kam 1945 in Göttingen zur Welt. Nach ihrer Promotion in Mikrobiologie an der dortigen Universität ging sie für zwei Jahre als Postdoktorandin ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) und habilitierte sich anschließend in Göttingen. 1985 wurde sie Professorin für Mikrobiologie an der Freien Universität Berlin; 1994 wechselte sie an die Humboldt-Universität, wo sie 2013 emeritiert wurde. Ihre Forschung konzentrierte sich auf physiologische und molekularbiologische Studien von Bakterien, die mit Wasserstoff als Energiequelle wachsen und Kohlendioxid zur Synthese von Zellsubstanz nutzen, was in mehr als 200 Originalarbeiten dokumentiert ist. Von 2008 bis 2018 war Bärbel Friedrich Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs, das die Universität Greifwald und den Wissenschaftsstandort insgesamt fördert. Sie war zudem Vizepräsidentin der Leopoldina (2005 bis 2015), Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1997 bis 2003) und Mitglied des Wissenschaftsrats (1997 bis 2003) Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, darunter den Arthur-Burkhardt-Preis (2013), das Bundesverdienstkreuz (2013), die Verdienstmedaille der Leopoldina (2016), die Mitgliedschaft im Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2021) und die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald (2022). Von 2001 bis 2004 war Bärbel Friedrich Mitglied des GDNÄ-Vorstands.

Michael Hecker wurde 1946 im erzgebirgischen Annaberg geboren. Zum Biologiestudium ging er an die Universität Greifswald, wo er 1973 mit einer Arbeit zur Biochemie der Pflanzen promoviert wurde. In den Folgejahren widmete er sich vor allem der Erforschung des Proteoms, der Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, einem Gewebe oder einer Zelle. Von 1986 bis 2014 war Michael Hecker Professor für Mikrobiologie und von 1990 bis 2013 auch Direktor des dortigen Instituts für Mikrobiologie. Als Dekan trug er von 1990 bis 1994 maßgeblich zum Neuaufbau der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät bei. Von 1997 bis 2001 war er Präsident bzw. Past-Präsident der Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie, dem größten Zusammenschluss mikrobiologisch orientierter Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum. Michael Hecker erhielt mehrere Wissenschaftspreise und 2023 die Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen. Er ist gewähltes Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Akademien, darunter der American Academy of Microbiology, der European Academy of Microbiology, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Titelseite des neuen Buchs „Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland“. Ernst-Ludwig Winnacker, DFG-Präsident von 1998 bis 2006, hat das Vor- und Nachwort verfasst.  

Weitere Informationen

Buch

Michael Hecker, Bärbel Friedrich: Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte in Ost-West-Perspektive (mit Vor- und Nachwort von Ernst-Ludwig Winnacker), 345 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023

Robert Dunkelmann: „Mehr Youtube, Instagram und Co. wagen“

„Mehr Youtube, Instagram und Co. wagen“

Robert Dunkelmann, Chemie-Produktionsfachkraft und begeistertes Mitglied der GDNÄ, über soziale Medien und ihr großes Potenzial, junge Leute für Wissenschaft zu begeistern.

Herr Dunkelmann, Sie sind mit 22 Jahren zur GDNÄ gekommen und seit zwölf Jahren aktives Mitglied. Was kann die GDNÄ jungen Menschen wie Ihnen bieten?
Mir bietet sie sehr viel. Bei den Tagungen lerne ich in drei Tagen neueste Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften kennen – konzentriert, verständlich und von den besten Wissenschaftlern präsentiert. Davon profitiere ich immer. Ein Beispiel: Bei der Versammlung in Mainz 2014 habe ich zum ersten Mal von nichtcodierender RNA gehört, die lange Zeit als genetischer Müll verkannt wurde. Erst in den letzten Jahren entdeckte man ihre Bedeutung als Drahtzieher der Genregulation. Gerade während der Corona-Pandemie war davon häufig die Rede. Für die meisten um mich herum war das komplett neu, aber ich hatte schon eine Vorstellung von der Sache.

Die Versammlung 2014 in Mainz war schon Ihre zweite GDNÄ-Tagung. Zum ersten Mal dabei waren Sie in Göttingen.
Ja, das war 2012, ich hatte gerade einen Sonderpreis im Bundeswettbewerb von Jugend forscht gewonnen und durfte meine Erfindung bei der Versammlung vorstellen. 

Welche Erfindung?
Ich hatte als Schüler ein Siegel entwickelt, das bei Tiefkühlprodukten anzeigt, ob sie auf ihrem Weg in den Supermarkt auch immer ausreichend kalt gelagert wurden. Für Verbraucher ist das ja eine wichtige Information. FrozenSignal, so hatte ich das Siegel getauft, ist weder gesundheits- noch umweltschädlich. Es enthält zwei durch eine dünne Schicht getrennte Stoffe. Bei einem deutlichen Temperaturanstieg schmilzt der obere Stoff und reagiert mit dem unteren. Das zunächst weiße Siegel verfärbt sich dann rostbraun. Es fällt sofort ins Auge, dass das Produkt schon mal aufgetaut war. 

Was ist aus der Idee geworden?
Ich habe sie zum Patent angemeldet und erste Vermarktungsgespräche  geführt. Anfänglich gab es Interesse aus der Industrie, aber das ließ nach, als sich herausstellte, dass der Handel so etwas nicht wollte. Ich habe die Sache dann nicht weiterverfolgt.

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Produkteigenschaften wie Säuregehalt, Viskosität oder Löslichkeit werden im Labor per Titration ermittelt.

Sie waren damals Schüler einer Fachoberschule bei Bremen und hatten bereits eine Ausbildung zum Chemisch-Technischen Assistenten hinter sich. Wie ging es für Sie beruflich weiter?
Nach dem Erwerb der Fachhochschulreife habe ich einige Jahre als Laborant gearbeitet und mich in einem Bremer Unternehmen um die Eingangskontrolle und Abwasseranalytik gekümmert. Seit 2018  arbeite ich bei einer anderen Firma in Rastede, die Bindemittel auf der Basis des Naturharzes Kolophonium herstellt. Das Zwischenprodukt wird in der Industrie zur Produktion von Farben, Lacken und Klebstoffen benötigt. Ich bin sowohl in der prozessbegleitenden Analytik als auch in der Produktion tätig und strebe einen Job als Operator in der neuen Chemieanlage meiner Firma an.

Haben Sie zwischendurch ein Studium erwogen?
Ja, tatsächlich dachte ich immer wieder an ein Chemiestudium. Aber mit den Jahren merkte ich, dass ich ein Mensch der Praxis bin. Darauf habe ich mich konzentriert und das war auch richtig so. In meiner jetzigen Firma habe ich gute Entwicklungsmöglichkeiten und werde gehört, wenn ich Neuerungen vorschlage. Gemeinsam mit meinen Chefs und Kollegen konnte ich schon einige Produktionsprozesse optimieren.

Sie sagten eingangs, dass Sie in der GDNÄ mehr beitragen möchten. Haben Sie schon konkrete Vorstellungen?
Ja, die habe ich. Ein Beispiel: Um junge Leute besser zu erreichen, wäre es wichtig, mehr über soziale Medien wie Youtube, Instagram, Tiktok, Twitch und Co. zu kommunizieren. Ich weiß, die GDNÄ hat bei der Jubiläumsversammlung 2022 in Leipzig damit begonnen, aber da ist noch Luft nach oben. Eine Option wäre es, Wissenschafts-Influencer mit großer Reichweite für eine Kooperation zu gewinnen. Es gibt tolle junge Leute an den Universitäten, die regelmäßig über ihre Forschung, ihren Alltag im Labor und ihr Leben als Wissenschaftler berichten. Mit Zehntausenden Followern erreichen sie ein sehr großes Publikum.

Ein Instagram-Video dauert maximal 60 Sekunden. Ist das nicht zu kurz, um anspruchsvolle Inhalte zu vermitteln?
Das ist wenig Zeit, keine Frage. Aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viel Wesentliches sich in 60 Sekunden vermitteln lässt. Und wer mehr will, kann sich längere Beiträge auf Youtube anschauen – da sind 15 Minuten und mehr drin. Die populärsten Wissenschafts-Influencer sind auf mehreren Plattformen unterwegs. Und wer heute junge Leute erreichen will, muss diese Medien nutzen. Sie sind natürlich auch für Ältere interessant.

Welche Vorteile winken?
Man sieht, was gerade viele Menschen beschäftigt, lernt einiges über die Kunst der kurzen Form und übt sich im Umgang mit sozialen Medien. Sie sind eine Fundgrube für Neugierige, hier findet moderne Wissensvermittlung statt.

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

@ Robert Kraemer GmbH & Co. KG

In diesem Raum werden die Anlagen des Unternehmens gesteuert. Von hier aus kann Robert Dunkelmann beispielsweise Reaktoren füllen, Temperatur und Druck verändern oder auch die thermische Abgasreinigung regulieren.

Andererseits werden soziale Medien leicht zum Zeitfresser.
Das stimmt, man verdaddelt sich schnell, und deshalb habe ich meinen Instagram-Konsum stark reduziert. Inzwischen halte ich mich höchstens noch eine Stunde im Monat auf der Plattform auf. Bei Youtube komme ich auf zwei bis drei Stunden am Tag. Da geht es nur zum Teil um Wissenschaft, es ist auch viel Musik dabei. Dafür läuft bei mir kaum noch Radio und lineares Fernsehen schaue ich gar nicht mehr.

Gerät man da nicht schnell in eine Filterblase? Engt den eigenen Horizont ein?
Die Gefahr besteht. Auch deshalb ist es so wichtig, Kontakt zu Institutionen zu halten, die für Weitblick und Überblick sorgen. Die GDNÄ leistet genau das und sie fördert den persönlichen Kontakt. Für meine Laufbahn war das ein riesiger Gewinn.

Inwiefern?
Ich denke zum Beispiel an das Format „Meet the Prof“ bei den Versammlungen. In diesen kleinen Gesprächsrunden können junge Leute ohne Angst vor Blamage ihre Fragen stellen und mit gestandenen Wissenschaftlern in wohlwollender Atmosphäre diskutieren. Mir hat das eine Menge Impulse gegeben und ich bin überzeugt, dass es auch anderen so geht, wenn sie die Gelegenheit bekommen. Holt man Schüler, Studenten oder auch junge Berufstätige da ab, wo sie stehen, dann kann man viele für die Naturwissenschaften zu begeistern – auch wenn die Schule das nicht geschafft hat.

Sieht man sich bei der Versammlung 2024 in Potsdam?
Ich habe fest vor zu kommen. Und ich freue mich schon jetzt darauf, Gesprächspartner von früher wiederzusehen und neue kennenzulernen.

Marion Merklein © FAU

@ Robert Kraemer GmbH & Co. KG

Robert Dunkelmann, Produktionsfachkraft, Jugend-forscht-Preisträger und langjähriges GDNÄ-Mitglied.

Zur Person

Robert Dunkelmann kam 1990 in Waren (Müritz) zur Welt. Zur Schule ging er zunächst in Penzlin im Landkreis Müritzer Seenplatte und von 2000 bis 2008 in Ganderkesee in der Metropolregion Bremen-Oldenburg. Es folgte eine Ausbildung zum Chemisch-Technischen Assistenten am Schulzentrum Utbremen. Dort erwarb erwarb Robert Dunkelmann im Jahr 2012 auch die Fachhochschulreife.

Von 2013 bis 2018 arbeitete er als Laborant in der Eingangskontrolle und Abwasseranalytik des Entsorgungs- und Recyclingunternehmens Nehlsen Plump GmbH. Seit 2018 ist er in der Produktion der Chemiefirma Robert Krämer GmbH in Rastede tätig. Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter rekonstruiert der 33-Jährige in seiner Freizeit historische Produktionsverfahren in der Chemie. GDNÄ-Mitglied ist er seit 2012.

Bohrkern aus dem grönländischen Eisschild mit schwarzen Partikeln, die Algen, Mineralien und Ruß enthalten. Sie verdunkeln die Gletscheroberfläche und beschleunigen im Sommer die Eisschmelze. © Rey Mourot

@ Robert Kraemer GmbH & Co. KG

Hier werden Zwischengebinde wie Harze, Alkohole oder organische Säuren für die anschließende Dosierung bereitgestellt. Die dosierten Rohstoffe gelangen dann mittels Förderschnecke direkt in den Reaktor.

Liane G. Benning: „Wie Algen den Klimawandel anheizen“

Wie Algen den Klimawandel anheizen

Liane G. Benning, Biogeochemikerin, über weltbewegende Grenzflächen, Mikroben im arktischen Eis und ihr El Dorado der Forschung.

Frau Professorin Benning, bei der nächsten Versammlung der GDNÄ halten Sie einen öffentlichen Abendvortrag mit dem Titel „Das große Schmelzen: kleine Zellen, große Folgen“. Warum sollte man sich diesen Termin vormerken?
Ich werde neue, bisher wenig bekannte Erkenntnisse vorstellen, die für Klimaprognosen der Zukunft wichtig sind. Es geht zum Beispiel um Schnee und Eisalgen und ihren großen Einfluss auf das  Abschmelzen des grönländischen Eisschilds, der erheblich zum globalen Meeresspiegelanstieg beiträgt. Wer sich also für aktuelle Klimaforschung interessiert und wissen will, was wir als Wissenschaftler in Potsdam und Berlin dazu beitragen, ist zu meinem Vortrag herzlich eingeladen.

Sie leiten die Forschungsgruppe Grenzflächengeochemie am Deutschen Geoforschungszentrum. Was haben Grenzflächen mit dem Klima zu tun?
Da muss ich ein wenig ausholen. In meiner Forschungsgruppe geht es um Grenzflächenreaktionen. Damit gemeint sind chemische, physikalische und biologische Reaktionen auf und in den Oberflächen unterschiedlichster Materialien, die deren Form, Struktur und Funktion prägen. Unser Planet verdankt solchen Prozessen sein Aussehen im Kleinen wie im Großen, sie steuern den Kreislauf von Kohlenstoff, Nährstoffen und Spurenelementen. Auch der Klimawandel ist eine Folge von Grenzflächenreaktionen. Ein Beispiel sind die Reaktionen zwischen Kohlendioxid und Atmosphäre. Ein weiteres, indirekteres Beispiel sind die Kettenreaktionen im arktischen Eis.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Katie Sipes

Feldforschung, die Freude macht: GFZ-Doktorand Rey Mourot sammelt Schnee- und Eisproben im Süden Grönlands. Der Hubschrauber im Hintergrund steht aus Sicherheitsgründen bereit. Das Wetter kann schnell umschlagen, dann muss die Arbeit sofort abgebrochen werden. Die Grönland-Fotos auf dieser Seite wurden im Mai 2022 aufgenommen.

Wie erfassen Sie die Vorgänge in Grenzflächen?
Wir kombinieren experimentelle Ansätze und Messungen in der Natur, beispielsweise in Grönland, mit Satellitenbildern, mikrobieller Sequenzierung und hochauflösenden, von uns ständig weiterentwickelten Bildgebungstechniken der Elektronenmikroskopie und Spektroskopie. Auf diese Weise können wir Wechselwirkungen in Grenzflächen bis hinunter auf die atomare Ebene beobachten. Die Erkenntnis, dass Algen, Viren und Bakterien eine Schlüsselrolle im Klimageschehen spielen, ist diesem großen Repertoire an Methoden zu verdanken. 

Bitte erläutern Sie genauer, wie all das zusammenhängt.
Nehmen wir Grönland als Beispiel. Ich bin dort immer wieder mit meinem Team, um Messungen vor Ort zu machen und Eisproben zu entnehmen, die wir nach der Rückkehr in Potsdam untersuchen. Noch ist das Grönlandeis kilometerdick, doch im Jahr schmilzt im Schnitt ein Meter weg und geht in die Ozeane. Seit Jahren verläuft diese Entwicklung immer schneller. Das hat nicht nur mit der zunehmenden Erderwärmung zu tun, sondern auch mit dunklen Flächen auf dem Eis. Sie reduzieren den sogenannten Albedo, also das Rückstrahlvermögen der Oberfläche, und erwärmen diese. Lange dachte man, dass herangewehte Ruß- oder Staubpartikel das Eis schwärzen. Doch inzwischen wissen wir, dass natürlich vorkommende Schnee- und Eisalgen im Verbund mit anderen Mikroorganismen wesentlichen Anteil an der Verdunklung haben – und sich in Grönland kräftig vermehren. Im südwestlichen Teil der Insel gehen bis zu 26 Prozent der Albedo-Reduktion auf Eisalgen zurück. Und im Rahmen des großen EU-Projekts „Deep Purple“ erforschen wir zudem, ob spezielle Viren die Algenblüte womöglich kontrollieren und wie die Blüte durch winzige Pilze verlangsamt wird. 

Lassen sich solche Erkenntnisse nutzen, um den Klimawandel abzubremsen?
Was wir machen, ist reine Grundlagenforschung. An Maßnahmen zur Milderung von Klimawandelfolgen beteiligen wir uns nicht. Ein Bio- oder Geoengineering auf der Basis bisheriger Forschungsergebnisse halte ich auch für verfrüht, weil wir noch viel zu wenig über das Gesamtsystem wissen. Einzelne Eingriffe können großen Schaden anrichten, wir müssen da sehr vorsichtig sein. 

Findet das neue Wissen über Algen und Co. schon Eingang in Klimaprognosen?
Im letzten Bericht des Weltklimarats von 2023 wurde der Beitrag der Algen zwar schon erwähnt, aber in den Vorhersagen ist das Bio-Albedo noch nicht berücksichtigt. Ich bin zuversichtlich, dass der nächste Sachstandsbericht näher auf den Effekt eingehen wird.

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

© Katie Sipes

Liane G Benning und ihr Doktorand Rey Mourot vor einem Schneefeld im südlichen Grönland. Es ist deutlich zu erkennen, wie hier grüne, gelbliche und rote Schneealgen wuchern.

Sie arbeiten schon lange auf diesem speziellen Gebiet. Wie kam es dazu?
Eigentlich war ich schon immer fasziniert von Prozessen in der Umwelt. Ich studierte dann zunächst Mineralogie in Kiel und setzte mein Studium fort an der ETH in Zürich, wo ich geochemische Reaktionen zu meinem Promotionsthema machte. Es folgten akademische Stationen in den USA und in Großbritannien und mit der Zeit wurde mir klar, dass ich ohne Biologie wissenschaftlich nicht vorankomme. Also habe ich mich eingearbeitet, vor allem in die Genetik, und so wurde aus mir schließlich eine Biogeochemikerin. 

Sie waren 17 Jahre an der Universität Leeds, bevor Sie nach Potsdam und Berlin wechselten. Wie haben Sie den Wechsel erlebt?Nach Deutschland zurückzukommen war ein kleiner Kulturschock. Im Alltag musste ich mich erst einmal an die rustikalen Umgangsformen in Berlin und Brandenburg gewöhnen – da geht es in England doch etwas höflicher zu. Und dann die ausufernde Bürokratie, mit der die Deutschen sich und andere quälen. Die Briten – vor allem an den Universitäten – arbeiten oft viel effizienter, da können wir uns einiges abschauen. 

Inzwischen sind Sie zehn Jahre in der Region und konnten hoffentlich auch Positives entdecken.
Sogar sehr viel Positives. Wissenschaftlich habe ich hier fantastische Möglichkeiten. Wenn ich ein modernes, teures Messgerät für meine Forschung brauche, finde ich es so gut wie immer in der Region – sei es an einem anderen Helmholtz-Institut, bei Einrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft oder an der Bundesanstalt für Materialprüfung. Und, was genau so wichtig ist: Die Kollegen sind hochkompetent, hilfsbereit und offen für Kooperationen. Genial ist zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Thomas Leya vom Potsdamer Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie. In seiner Biobank befindet sich eine wunderbare Schneealgen-Kultur, die sich hervorragend für Vergleiche mit unseren Eisalgen eignet. Beim Aufbau unserer Kultur konnten wir sehr vom Know-how der Fraunhofer-Kollegen profitieren. Unterm Strich kann ich mir für meine Forschung kein besseres Umfeld wünschen. 

Berlin-Brandenburg, ein El Dorado für Geowissenschaftler?
Dem kann ich zustimmen. 

Dann haben Sie vermutlich wenig Probleme, gute junge Leute für Ihr Team zu gewinnen?
Wenn wir eine Stelle ausschreiben, kommen Bewerbungen aus aller Welt. Das war gerade wieder der Fall, es ging um eine Nachwuchswissenschaftler-Position. Aber wir wurden nicht fündig, die Bewerbungen waren einfach nicht gut genug. Bei den einen waren es die lückenhaften Unterlagen, bei anderen die Schmalspur-Qualifikation, die für unsere fachübergreifenden Aufgaben nicht ausreicht. Manche Bewerber wollen nur ihre Chancen austesten und meinen es nicht ernst. Ganz so leicht haben wir es also nicht. 

Wie lösen Sie das Problem?
Im konkreten Fall schreiben wir die Stelle jetzt neu aus, mit genaueren Kriterien. Ich schicke die Anzeige auch an mir bekannte Kolleginnen und Kollegen weltweit. Persönliche Empfehlungen sind da sehr viel wert. Außerdem versuche ich, gute junge Leute aus meinem Studiengang an der FU Berlin ans GFZ zu ziehen: für ein Praktikum oder für die Abschlussarbeit. Wenn es gut läuft, kann ein Job daraus werden. Das sage ich auch den Schüler-Praktikanten aus Potsdam, die in den letzten Jahren bei uns waren. Mein Team hat sich ganz toll um deren Fragen und Wünsche gekümmert und wir sind gern bereit, neue Praktikanten aus der Region aufzunehmen.

Marion Merklein © FAU

© Phil Dera

Prof. Dr. Liane G. Benning.

Zur Person

Seit 2014 leitet Liane G. Benning die Abteilung Grenzflächengeochemie am Geoforschungszentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam. Sie ist zudem verantwortlich für die Potsdam Imaging and Spectral Analysis Facility (PISA). Seit  2016 ist sie Professorin an der Freien Universität Berlin.

An der Universität Kiel machte Liane G. Benning ihr Vordiplom in Mineralogie; an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) schloss sie ihr Studium in den Fächern Petrologie und Geochemie ab. An der ETH wurde sie im Jahr 1995 promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Pennsylvania State University wechselte Liane G. Benning an die University of Leeds, wo sie 2007 zur Professorin berufen wurde und bis 2017 forschte und lehrte.

Die Biogeochemikerin hat viele nationale und internationale Auszeichnungen erhalten. Seit 2018 ist sie Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, seit 2020 Geochemistry Fellow der Geochemical Society und der European Association of Geochemistry.  Anfang 2024 wurde Liane G. Benning von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in den Wissenschaftsrat berufen.

Bohrkern aus dem grönländischen Eisschild mit schwarzen Partikeln, die Algen, Mineralien und Ruß enthalten. Sie verdunkeln die Gletscheroberfläche und beschleunigen im Sommer die Eisschmelze. © Rey Mourot

© Rey Mourot

Bohrkern aus dem grönländischen Eisschild mit schwarzen Partikeln, die Algen, Mineralien und Ruß enthalten. Sie verdunkeln die Gletscheroberfläche und beschleunigen im Sommer die Eisschmelze.

Weitere Informationen

>> Praktikumsplatz-Anfrage für Oberstufen-Schülerinnen und Schüler: benning@gfz-potsdam.de

Marion Merklein: „Es kommen rumpelige Jahre“

„Es kommen rumpelige Jahre“

Marion Merklein, Ingenieurwissenschaftlerin, Firmenchefin und Mitglied des GDNÄ-Vorstandsrats, über die Zeitenwende im Maschinenbau, Schnupper-Unis  und frühe Erfolge mit dem Bohrhammer. 

Frau Professorin Merklein, an Ihrem Institut an der Universität Erlangen-Nürnberg entwickeln Sie ganze Fertigungsstraßen und realisieren diese zusammen mit Industrieunternehmen. Sind die Aussichten für den deutschen Maschinenbau wirklich so düster, wie derzeit oft gesagt wird?
Ich gehöre nicht zu den Schwarzmalern. Aber es wird in den nächsten Jahren gehörig rumpeln im Land. Der Maschinenbau steckt mitten in einer großen Transformation, die uns voraussichtlich noch bis zum Ende des Jahrzehnts beschäftigen wird. Erst dann geht es wieder aufwärts. 

Mit welcher Transformation haben wir es im Maschinenbau zu tun? 
Dreh- und Angelpunkt ist die Energiewende, die uns weg von fossilen Energieträgern und hin zu grünem Strom und Wasserstoff führen wird. Gleichzeitig sollen Energieverbrauch und Abfallvolumen sinken. Allein das sind schon kolossale Herausforderungen für den Automobilbau und viele andere Branchen des Maschinenbaus. Was die Situation zusätzlich belastet ist die sinkende Auftragslage vor dem Hintergrund einer globalen Konjunkturflaute und ein dramatischer Fachkräftemangel. Wir dürfen das Problem gesellschaftlich nicht unterschätzen, denn in Deutschland hängt jeder fünfte Arbeitsplatz am Maschinenbau. 

Was trägt Ihre Forschung zur Lösung der Probleme bei?
An unserem Uni-Institut kreist vieles um die Frage, wie man Prozessketten verschlanken kann. Zum Beispiel beim Bau von Wasserstoffantrieben. Heute sind solche Motoren praktisch Manufaktur-Produkte mit Kleinserien wie beim „Mirai“: Von dieser Limousine mit Brennstoffzelle stellt Toyota nur 30.000 Stück pro Jahr her. Das ist auf Dauer natürlich unwirtschaftlich. Aktuell konzipieren wir daher Fertigungsstraßen für die Großserienproduktion. Damit sollen in Zukunft Millionen von Wasserstoffantrieben für Kraftfahrzeuge aller Art hergestellt werden können. Darüber hinaus entwickeln wir Techniken, um den Wärmeverbrauch beim Fügen von Bauteilen zu reduzieren und spanlose Trenntechniken, was etwa beim Schneiden von Werkstücken zu weniger Abfall führt. 

Neben Ihrer Tätigkeit an der Universität sind Sie auch Firmenchefin. Was treibt Sie an?
Wir wollen Forschungsergebnisse aus der Uni schneller als üblich in die Praxis bringen. 2019 habe ich deshalb die Leitung der Firma „Neue Materialien Fürth“ übernommen. Es handelt sich um eine Landesforschungseinrichtung, die dem Freistaat Bayern zu 51 Prozent und mehreren Miteigentümern zu 49 Prozent gehört. Ich besitze auch einen Anteil. Die Firma lässt sich mit einem Fraunhofer-Institut vergleichen, allerdings mit einer viel schlankeren Verwaltung. Uns stehen große Anlagen im industriellen Maßstab zur Verfügung. Das ermöglicht uns realitätsnahe Versuche, die an der Universität so nicht möglich sind.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© FAU/Giulia Iannicelli

Marion Merklein mit einem Blechzuschnitt, aus dem Zugproben für die Materialprüfung ausgeschnitten wurden. Aus den Zugproben werden Eingangsdaten und Materialkarten erstellt, um damit Fertigungsprozesse simulieren zu können.

Gibt es schon Ergebnisse zum Anfassen?
Ja, da die gibt es und schon bald wird etwas dazukommen, das den Elektromaschinenbau voranbringt. Es geht um eine innenliegende Komponente, über die ich jetzt nicht mehr verraten kann, weil das Patentverfahren noch läuft. Die Entwicklung fußt auf Ergebnissen eines Transregio-Förderprogramms zum Thema Blechmassivumformung und ist ein gutes Beispiel für gelungenen Forschungstransfer. Neue Materialien Fürth macht auch Auftragsforschung und übernimmt Dienstleistungen – unterm Strich schreiben wir schwarze Zahlen. 

Noch sind Frauen im Maschinenbau eine Minderheit. Wie sieht es in Ihrem Umfeld aus?
Als ich meine Professur antrat, war ich im Fachgebiet die einzige Frau weit und breit. Über die Jahre hat sich aber viel getan. Heute sind die Professuren im Maschinenbau an der FAU zu knapp einem Drittel mit Frauen besetzt. Ich verstehe mich da durchaus als Rollenmodell. Und in meinen Arbeitsgruppen stelle ich immer wieder fest, dass gemischte Teams die besten Ergebnisse erzielen. 

Woher kommt Ihre Faszination für das Metier?
Mein Vater spielte eine große Rolle. Ich war acht Jahre alt, als er mir die Hilti in die Hand drückte, um einen Mauerdurchbruch zu machen. Ich wollte das unbedingt, er hat es mir zugetraut und ich habe es geschafft. In der Schule war ich sehr gut in Physik und als es ans Studieren ging, entschied ich mich für Werkstoffwissenschaften. Mit der Zeit gefiel mir der Maschinenbau noch besser, ich schwenkte um und legte meinem Promotion in diesem Fach ab. 

Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. © FAU

© FAU

Außenansicht des Instituts für Fertigungstechnologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Sie haben schnell Karriere gemacht und waren schon mit 34 Jahren Professorin. Was hat Ihnen Flügel verliehen?
Vor allem die zuverlässige Unterstützung durch meinen Doktorvater und Mentor, Professor Manfred Geiger. Er hat mich von Anfang an gefördert und mich auf alle möglichen Veranstaltungen und Tagungen mitgenommen. So konnte ich in Leitungsfunktionen hineinwachsen. 

Heute ist es an Ihnen, den Nachwuchs zu fördern. 
Leider macht sich der Nachwuchs rar. Im Vergleich zu Vor-Pandemie-Zeiten haben wir bis zu  40 Prozent weniger Studierende und entsprechend weniger akademischen Nachwuchs. Technikwissenschaftliche Studiengänge haben für junge Leute an Reiz verloren. Wenn sie überhaupt in eine technische Richtung gehen, machen viele von ihnen eher eine Berufsausbildung. Ausländische Studierende können das Defizit nur zum Teil ausgleichen. Wir müssen uns daher etwas einfallen lassen, um junge Leute für unser Fach zu begeistern. 

Was tun Sie dafür? 
Mein Team und ich halten Vorträge in Schulen, bieten Technikpraktika an und in den Pfingstferien veranstalten wir eine Schnupper-Uni: Da können uns dann Schülerinnen und Schüler eine Woche lang über die Schulter schauen. Derzeit tüfteln wir an kleinkindgerechten Experimenten, mit denen wir auch in Kitas gehen können. 

Sie sind Fachvertreterin für die Ingenieurwissenschaften in der GDNÄ. Was hat Sie gereizt, die Aufgabe zu übernehmen?
Ich wurde sehr freundlich vom Vorstand gefragt und habe das Angebot als Ehre empfunden. Die Interdisziplinarität der GDNÄ gefällt mir, das macht sie für mich so besonders und dafür engagiere ich mich gern.

 

Marion Merklein © FAU

© FAU

Prof. Dr.-Ing. Marion Merklein leitet den Lehrstuhl für Fertigungstechnologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Zur Person

Die Forschungslaufbahn von Prof. Dr.-Ing. Marion Merklein ist eng mit der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) verbunden. Dort studierte sie Werkstoffwissenschaften und wurde  promoviert, dort arbeitete sie als Oberingenieurin und Forschungsgruppenleiterin und habilitierte sich. Im Alter von nur 34 Jahren erhielt Merklein drei Angebote für Professuren aus dem In- und Ausland, entschied sich aber erneut für die FAU. Ihr Lehrstuhl für Fertigungstechnologie gilt als eines der international führenden Zentren auf seinem Gebiet mit hervorragenden Kontakten in Wissenschaft und Wirtschaft.

Die mehr als 600 Forschungsarbeiten Marion Merkleins decken ein breites Themenspektrum ab, wobei ihre Hauptinteressen in der Auslegung und Optimierung von Blechleichtbaukonstruktionen, der Blechwarmumformung (Presshärten) und der Blechmassivumformung liegen. In vielen Fällen gelingt Merklein der Brückenschlag zwischen Werkstoffkunde und Fertigungstechnik, wobei sie häufig für die industrielle Anwendung relevante Fragestellungen aufgreift.

Die 50-jährige Wissenschaftlerin wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2013) und mit dem Bayerischen Verdienstorden (2018). Sie ist Mitglied der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopodina, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Marion Merklein leitet zudem ein Unternehmen, die Neue Materialien Fürth GmbH, eine Landesforschungseinrichtung, die das Ziel verfolgt, Erkenntnisse grundlagenwissenschaftlicher Arbeiten in die Industrie zu fördern.

Weitere Informationen: