„Kreativität entfalten, mit Freude lernen“

Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom-Stiftung, über die Schwachstellen heutiger Schulen, ein neuartiges Ökosystem der Bildung und seinen außergewöhnlichen Start in der GDNÄ

Herr Dr. Winter, die Corona-Krise weitet sich aus, einzelne Schulen schließen und stellen zeitweise auf Home-Schooling um. Wissen wir eigentlich, wie sich das auf Schülerinnen und Schüler auswirkt?
Wir haben im April, also während der bundesweiten Schulschließungen, gut tausend 10- bis 16-Jährige und ihre Eltern befragt. Im Ergebnis sind die meisten von ihnen gut mit dem Lernen zu Hause zurechtgekommen. Es zeigte sich aber auch, dass den Kindern und Jugendlichen der Kontakt zu Mitschülern und Lehrkräften sehr fehlt. Die meisten Schülerinnen und Schüler haben zu Hause ein eigenes Zimmer und können dort in Ruhe arbeiten. Auch die Technikausstattung mit Computern, Laptops und Smartphones ist überwiegend gut.

Beste Voraussetzungen also für das Home-Schooling?
Leider nein. Neben der Tatsache, dass einer kleineren, aber zahlenmäßig nicht unerheblichen Gruppe von Schülerinnen und Schülern die genannten Voraussetzungen gänzlich fehlen, gibt es Schwachstellen vor allem bei Schulen und Lehrkräften. Von ihnen wünschten sich die befragten Kinder, Jugendlichen und Eltern deutlich mehr Unterstützung. Nur die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erhielt Rückmeldungen zu eingesandten Arbeiten und viele von ihnen beklagten, dass die Lehrkräfte für Fragen nicht erreichbar gewesen seien. Hinzu kommt: Kreative Wissensvermittlung über echten Fernunterricht, Erklär-Videos oder digitale Gruppenarbeit fand kaum statt, stattdessen verschickten die Lehrer Aufgaben und Arbeitsblätter per E-Mail und ließen ihre Schüler Texte lesen und schreiben.

Welche Folgen hat das zum Beispiel für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht, für den Ihre Stiftung sich ja primär stark macht?
In den sogenannten MINT-Fächern, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, haben die 10- bis 16-Jährigen den größten Unterstützungsbedarf. Denn hier werden Aufgabenstellungen oft nicht so gut verstanden wie in den Gesellschaftswissenschaften oder Fremdsprachen. Zudem bleibt das so wichtige experimentelle Arbeiten, wie unsere Studie zeigt, im Online-Unterricht fast komplett auf der Strecke. Dabei wäre heute vieles möglich. Trauriges Fazit: Die Defizite im Home-Schooling gehen stark zu Lasten des MINT-Bereichs.

Seit Ihrer Befragung ist mehr als ein halbes Jahr vergangen. Viel Zeit also zur Umstellung.  Wurde sie genutzt?
Ich habe nicht den Eindruck, dass im Sommer viel passiert ist in den Schulen. Nur an wenigen Orten sind zum Beispiel Formate des hybriden Lernens mit Präsenz- und Online-Anteilen entwickelt worden. Bei den Hochschulen ist das komplett anders: Dort wurden in den vergangenen Monaten der überwiegende Teil des Lehrangebots für die digitale Vermittlung aufbereitet.

Warum geht das nicht auch in den Schulen?
Den meisten Lehrkräften fehlt schlicht und ergreifend das Know-how für einen zeitgemäßen Online-Unterricht. Ein weiterer Grund ist die ausufernde Bildungsbürokratie, die grundlegende Veränderungen erschwert. Und die Schulleitungen müssen sich neben ihren eigentlichen Aufgaben mit zu vielen anderen Dingen beschäftigen – zum Beispiel mit Lüftungsanlagen.

Bei der Eröffnung des Berliner Science Centers „Futurium“: Ekkehard Winter spielt mit Kindern ein Brettspiel zur künstlichen Intelligenz.

Ein dickes Brett also. Kommt man da überhaupt durch?
Wir haben keine andere Wahl. Die Corona-Krise führt die Schwachstellen des Schulsystems gnadenlos vor Augen – einfach wegsehen und sich verstecken geht jetzt nicht mehr. Dabei sind die Defizite seit Jahren bekannt. Etwa durch die internationale Vergleichsstudie ICILS 2018, in der es um Medienkompetenz ging. Deutschlands Schülerinnen und Schüler landeten im Ländervergleich auf den hinteren Plätzen. Schlecht abgeschnitten haben auch die technische Ausstattung der Schulen und die Digitalkompetenz der Lehrkräfte. Technisch wird in Deutschland jetzt aufgerüstet, da fließt momentan viel Geld rein. Weiter mangelhaft ist jedoch die pädagogische Kompetenz.

Gilt das für alle Schulen oder gibt es nicht doch einige lobenswerte Ausnahmen?
Es gibt zum Glück sogar viele gute Beispiele dafür, wie Lehrkräfte digitale Medien produktiv und mit hohem pädagogisch-didaktischen Mehrwert einsetzen. Wir und andere Stiftungen und Verbünde wie das Forum Bildung Digitalisierung versuchen, diese Best-Practice-Beispiele bekannt zu machen und sie als Vorbilder zu nutzen. Das ist aber schwierig, auch weil viele Lehrkräfte, die jetzt an den Schulen arbeiten, die neuen Möglichkeiten weder in ihrer Ausbildung kennengelernt haben noch in geeigneten Fortbildungen einüben konnten. Das gilt übrigens für ältere und jüngere Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen.

Was muss denn passieren, um echte Veränderungen herbeizuführen?
Wir brauchen nichts weniger als einen Kulturwandel im Bildungssystem. Eine positive Grundhaltung dem Neuen gegenüber und Lust am Lernen über das gesamte Berufsleben hinweg. Wichtig sind starke Schulleitungen und Kollegien, die sich als Team verstehen und diesen Spirit auch in den Unterricht tragen. Das heute noch vorherrschende Einzelkämpfertum bei den Lehrkräften hat sich überlebt. Für die Welt von morgen brauchen wir junge Menschen, die ihre Kreativität entfalten und mit Freude gemeinsam lernen.

Ihre Stiftung konzentriert sich auf die 10- bis 16-Jährigen. Gerade in dieser Altersgruppe scheint die Lust am Lernen zu versiegen.
Das stimmt.  Aber die Flamme ist noch da. Man muss sie nur anpusten, dann machen Jugendliche die tollsten Sachen, wie wir aus vielen Projekten wissen.  Sie beißen sich regelrecht fest, wenn etwas sie wirklich interessiert und es ihnen wichtig für ihr Leben erscheint. So wünschen sie sich auch die Schule, das haben wir in unserer neuen Studie „Wie lernen Kinder und Jugendliche heute?“ gesehen. Die Schule wird derzeit zwar als der zentrale Lernort verstanden, aber sie ist nicht der Ort, an dem man gern lernt. Deshalb setzt unsere Stiftung zunehmend auf das außerschulische Lernen, sei es in modernen Bibliotheken und Museen, Jugendhäusern oder Projektwerkstätten wie etwa Makerspaces. Wir propagieren ein Bildungs-Ökosystem, in dem die Schule Teil eines großen Netzwerks ist.

In dem auch die Wissenschaft eine Aufgabe hat?
Eine sehr große sogar, gerade im MINT-Bereich. Ich habe selten so viel Begeisterung für Physik erlebt wie bei einer Direktschalte zwischen einer Schule und Wissenschaftlern am Genfer CERN. Mit gigantischen Teilchenbeschleunigern wird dort der Aufbau der Materie erforscht. Was an MINT Spaß macht, trägt also nicht das Etikett MINT, sondern heißt CERN – oder auch GDNÄ. Dass die GDNÄ Schüler und Lehrkräfte zu ihren Versammlungen einlädt und spezielle Programme im Bildungsbereich anbietet, ist vorbildlich für das Bildungssystem der Zukunft.

Vor Ihrem Engagement im Bildungssektor brachten Sie beim Stifterverband den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft voran. Ein Feld, auf dem auch die GDNÄ aktiv ist…
…und auch in den 1990er-Jahren schon eine wichtige Rolle spielte, vor allem in Gestalt ihrer Präsidenten Joachim Treusch und Detlev Ganten. Deutsche Journalisten und Wissenschaftler pilgerten damals alljährlich zu den Jahrestagungen der American Association for the Advancement of Science, kurz Triple AS genannt. Detlev Ganten hatte die Idee, ein europäisches Pendant zu schaffen. Es herrschte eine tolle Aufbruchsstimmung. Zusammen mit Kollegen konnte ich damals zur Gründung der gesamteuropäischen Wissenschaftskonferenz EuroScience Open Forum beitragen. Inzwischen ist ESOF zu einer Institution geworden – die nächste Tagung soll 2022 in Leiden stattfinden.

Wie sind Sie zur GDNÄ gekommen?
Ich hatte beruflich in Konstanz zu tun und wollte bei der Gelegenheit den damaligen GDNÄ-Präsidenten Hubert Markl um einen Rat bitten. Wir trafen uns also in seinem Institut und ich trug mein Anliegen vor. „Den Rat kann ich Ihnen gern geben“, sagte Markl, „aber unter der Bedingung, dass Sie Mitglied der GDNÄ werden.“ Er reichte mir ein Formular, ich unterschrieb und zog mit ein paar guten Tipps von dannen. Tja, so ging Mitgliederwerbung damals. 

Ekkehard Winter vor der Kamera: Szene eines Interviews für einen Social-Media-Kanal der Telekom-Stiftung.

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Faszination 3D-Drucker: Impression von einem Schulprojekt der Telekom-Stiftung in Bonn.

Zur Person
Dr. Ekkehard Winter (62) ist seit 2005 Geschäftsführer der Deutsche Telekom Stiftung. Nach einem Studium der Biologie und seiner Promotion am Institut für Genetik der Universität Köln ging Winter als wissenschaftlicher Referent zur damals neu gegründeten Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zwei Jahre später wechselte er zum Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft nach Essen. Er war dort zuständig für Programme zur Hochschulreform und betreute eine Reihe von Stiftungen im Bereich Natur- und Biowissenschaften. Im Jahr 1999 arbeitete Winter am Engineering and Physical Sciences Research Council (EPSRC), der größten britischen Einrichtung zur Forschungsförderung. Ein Jahr später übernahm er beim Stifterverband die Leitung des Bereichs „Programm und Förderung“ und wurde 2003 stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes. Seit 2017 ist er Co-Sprecher des Nationalen MINT-Forums. Ekkehard Winter ist Mitbegründer der bundesweiten Initiative „Wissenschaft im Dialog“ (WiD), zu der sich im Jahr 2000 alle deutschen Wissenschaftsorganisationen zusammengeschlossen haben, und des Euro Science Open Forum (ESOF). Er leitete bis Februar 2020 den Arbeitskreis „Bildung und Ausbildung“ des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen und ist Mitglied zahlreicher anderer Gremien im Bildungs-, Wissenschafts- und Stiftungsbereich.

Deutsche Telekom Stiftung
Im Jahr 2003 von der Deutschen Telekom ins Leben gerufen, gehört die Telekom-Stiftung heute mit einem Kapital von 150 Millionen Euro zu den großen Bildungsstiftungen in Deutschland. Die Telekom Stiftung engagiert sich für ein zukunftsfähiges Bildungssystem in einer digitalen Welt und konzentriert sich dabei auf die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (die sogenannten MINT-Fächer). Für Projekte in diesem Bereich stellt sie jährlich rund zehn Millionen Euro zur Verfügung. Die Stiftung mit Sitz in Bonn beschäftigt 20 Mitarbeiter. Vorstandsvorsitzender ist seit 2018 der frühere CDU-Politiker und Bundesminister a.D. Dr. Thomas de Maizière.

Weiterführende Links:

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