„Auch als Naturforscher machte Goethe großen Eindruck“
Herr Professor von Engelhardt, vor Kurzem ist Ihr Buch „Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts“ erschienen. Sie sind der Herausgeber des 670 Seiten starken Werks. Was hat Sie zu dieser Arbeit veranlasst?
Mit Goethe und seinen Beziehungen zu den Naturwissenschaften und der Medizin um 1800 beschäftige ich mich seit Jahrzehnten. Dabei fiel mir auf, dass in der Forschung die deutsche und internationale Rezeption von Goethe als Naturforscher in den Naturwissenschaften und der Medizin des 19. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen nicht behandelt wurde. Das war für mich jetzt der Anlass, das Echo der Fachwelt mit ausgewählten, teils an entlegenen Orten gefundenen Texten zu dokumentieren. Die 670 Seiten sind der Fülle bemerkenswerter Aufsätze geschuldet.
Für welche Zielgruppe ist der Band gedacht?
Das Werk richtet sich an Goethe-Forscher, Wissenschafts- und Medizinhistoriker und alle Menschen, die sich für Goethes Beiträge zu den Naturwissenschaften und der Medizin interessieren.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Beiträge ausgewählt?
Die 48 Aufsätze von Wissenschaftlern, von denen viele Mitglieder der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte waren, sollen einen international repräsentativen Eindruck der Rezeption in den Naturwissenschaften und der Medizin des 19. Jahrhunderts geben. Auf umfangreiche monografische Darstellungen, die ich in der ausführlichen Einleitung erwähne und die in der Gesamtbibliografie von 240 Texten angeführt werden, musste ich aus Platzgründen verzichten.
Der Band enthält Texte auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Niederländisch. Warum haben Sie sich für die Originalsprache entschieden?
Es geht mir um einen authentischen Eindruck in Sprachen, die auch Goethe verstanden hat. Außerdem können auf diese Weise ausländische Zitate unmittelbar aus den Texten angeführt und bibliographisch belegt werden. Wer Übersetzungen wünscht, kann dies heute problemlos mit entsprechenden Programmen tun.
© SUB Göttingen Cod. Ms. Lichtenberg VI, 44.
Seine Farbenlehre, symbolisiert im Farbenkreis, verstand Goethe als sein wichtigstes Werk.
Welche Texte würden Sie dem eiligen Leser ans Herz legen?
Für eilige Leser empfehle ich vor allem die Beiträge von Carl Gustav Carus (zuerst erschienen 1843), Hermann von Helmholtz (1853), Rudolf Virchow (1861), Emil Du Bois-Reymond (1882) und Ernst Haeckel (1882) – alle waren sie Mitglieder der GDNÄ. Unter den ausländischen Texten verdienen die Ausführungen von Ernest Faivre (1859), François-Louis Hahn (1883), François-Jules Pictet (1838) und John Tyndall (1880) besondere Beachtung. Sehr eindrucksvoll ist auch das Kapitel über den englischen Biologen Thomas Henry Huxley – ihm wurde auf der Versammlung von 1877 in München die Ehrenmitgliedschaft der GDNÄ verliehen. Huxley hat die 1869 erschienene erste Ausgabe des heute international maßgeblichen Wissenschaftsmagazins Nature mit Aphorismen zur Natur von Goethe eröffnet (siehe Randspalte).
Zwischenkieferknochen, Farbenlehre, Urpflanze: Der Naturforscher Goethe hat sich mit beeindruckend vielen wissenschaftlichen Themen beschäftigt. Wie kam es dazu?
Lebenslang waren für Goethe die anorganische und organische Natur, ihre Phänomene, Prozesse und Entwicklungen von großem Interesse. „Erfahrung, Betrachtung, Folgerungen – durch Lebensereignisse verbunden“ – so beschrieb er seine Methode in der Naturforschung. Farben sind für Goethe nicht nur mathematische und physikalische Phänomene, für ihn besitzen sie gleichermaßen ethische, psychologische und kulturhistorische Bedeutungen. Das Phänomen der Metamorphose gilt für die Pflanze und das Tier: „Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur“, heißt es in einem nachgelassenen Text namens Morphologie. Goethe veröffentlichte auch zahlreiche wissenschaftstheoretische Schriften, darunter Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt oder Erfinden und Entdecken oder Analyse und Entdecken. Die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes umfassen in der wissenschaftlich-kritischen Ausgabe der Leopoldina elf Bände.
Goethe war Dichter und Naturforscher: Wirkte sich das eine auf das andere aus?
Bei allen Unterschieden, an die Goethe wiederholt erinnert, war ihm die Verbindung der zwei, oder besser, der vier Kulturen überaus wichtig. Gemeint sind die Kulturen der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften, der Künste und des Lebens. Diese Verbindung zeigt sich sowohl in Goethes wissenschaftlichen als auch in seinen literarischen Texten wie ebenfalls in seinen autobiographischen Schriften Dichtung und Wahrheit oder in der Italienischen Reise. Ein literarisches Beispiel ist der Roman Die Wahlverwandtschaften, der in Titel und Inhalt mit der zeitgenössischen Chemie korrespondiert und die Beziehungen der Elemente in Analogie zu den Beziehungen der Menschen interpretiert. Allerdings weist Goethe ausdrücklich auf die Freiheit und Verantwortung des Menschen hin, sinnlichen Anziehungen auch widerstehen zu können. In der Farbenlehre entwickelte Goethe zahlreiche Ideen zu Theorie und Praxis der Farben in der Malerei. Und das Gesetz der Urpflanze, so erkennt Goethe in Italien, wird sich auf „alles Lebendige anwenden lassen“.
© Frithjof Spangenberg, Illustrationen & Kommunikationsdesign
Die Illustration zeigt einen Schafsschädel mit deutlich sichtbarem Zwischenkieferknochen (os intermaxilliare, rechts vorne). Um dieses Thema entbrannte ein heftiger Streit zwischen Goethe und dem GDNÄ-Gründer Lorenz Oken.
Inwiefern war Goethe als Naturforscher ein Kind seiner Zeit?
Goethe kannte sich in den Naturwissenschaften und der Medizin seiner Zeit bestens aus. Er wurde vom Stand der Wissenschaften beeinflusst, pflegte Verbindungen zu vielen Naturforschern und Medizinern der Zeit, beachtete aber auch die historische Entwicklung der Wissenschaften und einzelne Forscher der Vergangenheit. Die Farbenlehre ist ein besonderes Beispiel: Ihr widmete Goethe ein ganzes Buch, das ihre Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart beschreibt.
Wie reagierten Goethes Zeitgenossen auf seine Arbeiten?
Das Spektrum der Reaktionen war, wie im vorliegenden Werk deutlich wird, unter Naturwissenschaftlern und Medizinern seiner Zeit und bis in die Gegenwart hinein vielfältig und unterschied sich nach naturwissenschaftlichen Disziplinen. Ausgesprochen kritisch fielen die Reaktionen in der Physik aus. Zustimmung gab es mehrfach in der Geologie, Botanik und Anatomie. Nach Ansicht von Nees von Esenbeck, Mitglied der GDNÄ und von 1818 bis 1838 Präsident der Leopoldina, hat Goethe zum ersten Mal die Pflanzenwelt nach „wissenschaftlichen Prinzipien“ geordnet und philosophisch eingeleitet. Insgesamt hat der Naturforscher Goethe seine Zeitgenossen stark beeindruckt. Notwendig und aufschlussreich wäre jetzt ein Vergleich mit den Reaktionen in den Geisteswissenschaften und Künsten seit dem 19. Jahrhundert bis heute – eine Arbeit, die ich anderen Forschern überlassen möchte.
Wie stand Goethe zur GDNÄ?
Goethe nahm interessiert und zustimmend Anteil an den Versammlungen der 1822 gegründeten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und verfasste eine zu seiner Zeit nicht veröffentlichte, aber später mehrfach gedruckte Studie über die GDNÄ. Er begrüßte vor allem das Anliegen der neuen Forschergesellschaft, Wissenschaftler persönlich in Kontakt zu bringen und vermerkte zugleich, dass ihre Mitglieder nicht die „mindeste Annäherung“ zu seiner „Sinnes-Art“ hätten. Alexander von Humboldt bezeichnete Goethe in seiner Rede auf der Berliner Tagung 1828 als „Patriarchen vaterländischen Ruhmes“, den seine literarischen Schöpfungen nicht abgehalten hätten, „den Forscherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen“.
Wie war Goethes Verhältnis zu Lorenz Oken, dem Gründer der GDNÄ?
Das Verhältnis war beiderseits ambivalent, Ein Plagiatsstreit zwischen Goethe und Oken löste die Entdeckung des Schädelwirbels aus, die Oken 1807 in einer Veröffentlichung beschrieb und auch Goethe schickte. Der war sehr angetan von der Studie. Er lud Oken nach Weimar ein und setzte sich für dessen Berufung an die Universität Jena ein, wofür Oken ihm überaus dankbar war. 1823 reklamierte Goethe in den Heften zur Morphologie die Entdeckung für sich selbst. Er habe sie 1790 anhand eines auf den Dünen des Lidos von Venedig gefundenen Schafschädels gemacht, die Entdeckung dann zwar nicht veröffentlicht, aber mehrfach in Briefen aus Italien nach Deutschland darüber berichtet. An der Kontroverse beteiligten sich viele Wissenschaftler und nahmen mehrfach für Oken Partei. In anderen Bereichen standen sich Goethe und Oken durchaus nahe. Trotz abweichender politischer Auffassungen und obwohl er das Verbot von Okens Zeitschrift Isis in Thüringen durchsetzte, bezeichnete Goethe den GDNÄ-Gründer als „genial“.
Nehmen Sie heute noch ein Interesse an Goethe als Naturforscher wahr?
Ein neues Interesse ist in der Gegenwart vor allem an Goethes Farbenlehre zu beobachten. Man versucht, Goethes Forschungen, Beobachtungen und Auffassungen auf diesem Gebiet im Sinne seines ganzheitlichen Naturverständnisses zu verstehen, das sich vom objektiven oder auch experimentell-statistischen Wissenschaftsbegriff der Moderne abhebt. Sehr deutlich wird das in Goethes von Physikern meist vernachlässigten psychologisch-kulturellen Interpretation der Farben und an seinem Konzept der Metamorphose und Morphologie in den organischen Wissenschaften.
Inwiefern kann Goethe zu einem Zusammenwachsen der Kulturen in Wissenschaft und Kunst beitragen?
Goethes Bedeutung liegt ohne Zweifel auch in seinem Beitrag zur Überwindung oder, besser gesagt, Milderung der Trennung der zwei beziehungsweise vier Kulturen. Es kam Goethe insbesondere auf eine wechselseitige Verbindung und Kommunikation zwischen diesen Kulturen an, was für Naturwissenschaften und Medizin eine Herausforderung darstellt. Umgekehrt müssten aber auch die Künste und Geisteswissenschaften ihre naturwissenschaftliche Basis oder Abhängigkeit von der Natur erkennen – eine wohl noch größere Herausforderung. Wie sehr die Mühe sich lohnen kann, beschreibt Goethe so: „Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur und zugleich sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geist Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluss miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.“
© Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung Lübeck
Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt
Das Buch
Dietrich von Engelhardt (Hg.): Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts – Themen, Texte, Titel. J.B. Metzler, Heidelberg 2024
© J.B. Metzler, Heidelberg 2024
Zur Person
Dietrich von Engelhardt war von 1983 bis 2007 Ordinarius für Geschichte der Medizin und Allgemeine Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Naturphilosophie, Naturwissenschaften, Medizin in Idealismus und Romantik sowie europäische Wissenschaftsbeziehungen. 1997 organisierte Professor Engelhardt ein großes Symposium zum 175-jährigen Bestehen der GDNÄ in Lübeck. Er ist Herausgeber der zugehörigen Festschrift Forschung und Fortschritt sowie der Schriftenreihe über Die Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. Dietrich von Engelhardt ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und seit 1981 auch der GDNÄ. 2016 erhielt er die Alexander-von-Humboldt-Medaille der GDNÄ.
© Chris Light
Im Jahr 1786 besuchte Goethe den Botanischen Garten in Padua. Bei der Betrachtung einer Fächerpalme kam ihm die Idee, dass alle Pflanzenarten vielleicht aus einer Art entstanden sein könnten. Der heute Goethe-Palme genannte Baum steht noch heute da und eine vorn angebrachte Tafel enthält in italienischer Sprache folgende Inschrift: „Johann Wolfgang Goethe, Dichter und Naturforscher entnahm hieraus den Gedanken und die Beweise seiner Metamorphose der Pflanzen.“
Thomas Henry Huxley in der Erstausgabe von Nature, 1869
„It may be, that long after the theories of the philosophers whose achievements are recorded in these pages, are obsolete, the vision of the poet will remain as a truthful and efficient symbol of the wonder and the mystery of Nature.“
(in: Dietrich von Engelhardt: Goethe als Naturforscher, S. 291)
Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung:
© Stadtmuseum Dresden
Der deutsche Universalgelehrte und Maler Carl Gustav Carus (1789-1869) war sowohl Goethe als auch der GDNÄ eng verbunden.