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  • „Es gibt kein schöneres Leben“

    Er ist ein international bekannter Herz-Kreislauf-Forscher, hochdekorierter Wissenschaftsmanager – und ehemaliger GDNÄ-Präsident: Im Gespräch erzählt Detlev Ganten von seinen Jahren als Wessi in einem Ost-Institut, dem Aufschwung der Wissenschaft und seinen Plänen für die dritte Lebenshälfte.  

    Herr Professor Ganten, die Leitung des World Health Summit haben Sie gerade abgegeben, in Kürze erscheint ein neues Sachbuch aus Ihrer Schreibwerkstatt und zwischendurch engagieren Sie sich für das Wissenschaftsjahr Berlin 2021. Demnächst steht Ihr achtzigster Geburtstag an – finden Sie überhaupt Zeit, ihn zu feiern?
    Zeit hat man immer für alles, was man für wichtig hält. Und mit Freunden gemeinsam zu feiern, aus welchem Anlass auch immer, hat in meinem Leben immer einen hohen Stellenwert gehabt. Ich hoffe diese besondere Zeit mit COVID-19 erlaubt das fröhliche Feiern im Freundes- und Kollegenkreis.

    In einer Phase, in der viele es beruflich ruhiger angehen lassen, haben Sie Ihre hohe Taktzahl kaum reduziert. Was treibt Sie an?
    Die Freude an der Aufgabe. Wissenschaftler haben ja das unschätzbar große Privileg, sich ihre Aufgabe selber auszuwählen. Es gibt kein schöneres Leben. Dazu kommt die Hoffnung, man könnte ja vielleicht etwas Bedeutsames erforschen und realisieren.

    Sie bewegen sich seit Langem im deutschen Wissenschaftssystem und kennen es aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: als Pharmakologie-Professor in Heidelberg und als Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin im Osten Berlins, als Vorstandsvorsitzender der Helmholtz-Gemeinschaft und als Chef der Charité, um nur einige Ihrer Stationen zu nennen. Wie hat sich das System in dieser Zeit verändert?
    Es ist erfreulicherweise vieles besser geworden. Deutschland hat in den letzten fünfzig Jahren wieder an seine große Wissenschaftstradition angeschlossen. In den Nachkriegsjahren hatte der wirtschaftliche Wiederaufbau zunächst Vorrang.  Mit Forschung und Wissenschaft ging es erst wieder in den 1970er-Jahren richtig los und die Wiedervereinigung brachte nochmal einen erheblichen Schub. Die finanzielle Förderung war gut und zuverlässig. Inzwischen ist auch die „Versäulung“ der Wissenschaft, also die Trennung von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, nicht mehr so ausgeprägt wie früher, das System ist durchlässiger geworden. Wenn es um die wissenschaftliche Produktivität geht, rangiert Deutschland heute im internationalen Vergleich auf Platz vier. Das Land hat sich insgesamt wieder zu einem sehr guten, attraktiven Wissenschaftsstandort entwickelt.

    Willkommen in Berlin: Beim World Health Summit empfing Gründungspräsident Detlev Ganten zwischen 2009 bis 2020 alljährlich Tausende Experten aus Politik und Gesundheitswesen in der Bundeshauptstadt.

    Sie sind 1991 aus dem beschaulichen Heidelberg weggegangen, um im Ostteil Berlins das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin aufzubauen. Ein großer Schritt, persönlich wie beruflich. Wie sind Sie die neue Aufgabe angegangen?
    Nach meiner Ernennung zum Gründungsdirektor am 5. September 1991 bin ich sofort nach Berlin-Buch gefahren, um mich persönlich vorzustellen. Es herrschte eine angespannte Stimmung, die circa 2500 Mitarbeiter waren damals stark verunsichert. In ihren Augen war ich der unbekannte Wessi mit dem Auftrag, aus den drei Zentralinstituten der Akademie der Wissenschaften der DDR vor Ort etwas Neues zu formen. Das erregte natürlich Misstrauen, aber gleichzeitig spürte ich eine große Bereitschaft, die Chance der friedlichen Wiedervereinigung, die im Osten Deutschlands ihren Ursprung hatte, zu ergreifen und einen neuen Weg gemeinsam zu gehen. Für einige Wochen habe ich dann praktisch rund um die Uhr Gespräche geführt. Mein Büro war für alle Mitarbeiter jederzeit offen, abends gab es Flensburger Bier oder Rotwein und so haben wir uns auch persönlich besser kennengelernt. In dieser offenen Atmosphäre entstanden gemeinsame Konzepte und eine Aufbruchsstimmung, die alle erfasste und eine unglaubliche Kreativität freisetzte. 1992 konnten wir das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch feierlich gründen – auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker kam zum Festakt. Ich bin zwölf Jahre am MDC geblieben. Beruflich und menschlich war es eine der herausforderndsten und prägendsten Zeiten meines Lebens.

    Flensburger Bier und Rotwein haben sicher dazu beigetragen: Aber was war es im Kern, das Ihre anfangs skeptischen Mitarbeiter umgestimmt hat? Anders gefragt: Wie wurde aus Misstrauen Aufbruchsgeist?
    Wichtig waren der gegenseitige Respekt und das Zuhören. Ich wusste ja anfangs auch nicht genau, wie der Weg aussehen würde und war darauf angewiesen, ihn gemeinsam zu finden. Das habe ich meinen Mitarbeitern und Kollegen auch offen gesagt und das hat enorme Energien freigesetzt: Alle wollten zum Erfolg beitragen, auch die von Wissenschaftlern oft so gern gescholtene Verwaltung. Hinzu kommt die einmalige Geschichte des Standorts mit seinen weltberühmten Kaiser-Wilhelm-Instituten und später dann mit dem biomedizinischen Komplex rund um die Akademie-Institute der DDR ­– Buch war schon immer bekannt für seine wissenschaftliche Qualität. Den Kollegen dort war diese Tradition sehr bewusst und auch für mich wurde sie ein Kraftquell. Was sehr zum Erfolg beigetragen hat, waren die großen Freiheiten, die wir in den Aufbaujahren genossen: Die Politik ließ uns viel Spielraum bei unseren Entscheidungen.  

    Das MDC sollte eine Forschungseinrichtung neuen Stils werden. Ist das gelungen?
    Ich denke schon – aber das müssen andere beurteilen. Unser Konzept, die Erforschung von molekularen Grundlagen und zellulären Basismechanismen zusammen mit Klinikern zum besseren Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu nutzen, hat sich bewährt. Mit flachen Hierarchien, vielen unabhängigen, jungen Arbeitsgruppen und der Möglichkeit, sich um Drittmittel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und anderen Fördermittelgebern zu bewerben, haben wir ein modernes, attraktives, agiles MDC geschaffen. Wir haben auch dafür gesorgt, dass Ergebnisse aus der Grundlagenforschung zügig Patienten zugutekommen und wirtschaftlich genutzt werden können. Die Zusammenarbeit mit der Charité Universitätsmedizin Berlin klappt hervorragend.  Direkt neben den Forschungslaboren ist ein Biotechnologie-Campus entstanden, der heute zu den bedeutendsten in Deutschland zählt.

    In Ihrer Zeit als MDC-Chef haben Sie viele zusätzliche Aufgaben übernommen: Mehr oder weniger parallel waren Sie Mitglied des Wissenschaftsrats, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft und, von 1996 bis 1998, auch Präsident der GDNÄ. Wie kam es zu dieser Ämterfülle?
    Diese zusätzlichen Aufgaben habe ich angenommen, weil dadurch neue Synergien für die Entwicklung des MDC möglich wurden. Die Erneuerung der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen zur Helmholtz-Gemeinschaft war ein Segen für uns und die gesamte deutsche Gesundheitsforschung. Und die Präsidentschaft der hochangesehenen GDNÄ empfand ich als Anerkennung für das neue MDC.

    In Ihre Amtszeit fiel der 175. Geburtstag der GDNÄ, der mit einem großen Symposium in Lübeck gefeiert wurde. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie zurückdenken?
    Die wunderbare, gesellige, kollegiale Atmosphäre, die großartigen Gäste. Die Tradition, der lebendige Geist und die ausgewählten Vorträge auf höchstem Niveau: Das prägt bis heute mein Bild von der GDNÄ. Der Wissenschaftshistoriker Dietrich von Engelhardt hatte die Tagung vorbereitet und sie verlief glanzvoll. Sehr gern erinnere ich mich an die Teilnahme der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Praktisch alle Präsidenten der großen deutschen Wissenschaftsorganisationen waren gekommen und es sind neue Freundschaften entstanden. Virchow, Helmholtz, die Humboldts – sie hätten Ihre Freude an dieser Tagung gehabt.

    Ein Jahr später, im Jahr 1998, richteten Sie in Berlin die 120. Versammlung der GDNÄ aus. Sie trug den Titel „Informationswelt – Unsere Welten der Information“ – um was ging es genau?
    Ein Schwerpunkt war zum Beispiel die Genomforschung. Neue Methoden der Gensequenzierung bei Modellorganismen und des Menschen ergaben eine bis dahin unbekannte Datenmenge mit neuen Möglichkeiten in der molekularen Medizin.  Über deren Chancen und Risiken wurde Ende der 1990er-Jahre ja weltweit sehr intensiv diskutiert. Deutschland war damals in einem Selbstfindungsprozess, es war eine Zeit des Umbruchs. Nach der Wiedervereinigung wurde Berlin 1999 ja Sitz der Bundesregierung.  Damals ging es auch um die neue Corporate Identity der Nation: „Großdeutschland“ oder „Land der Dichter und Denker“ – zwischen diesen Polen changierte die öffentliche Debatte. Berlin als eine Art Laboratorium der Wiedervereinigung war vor diesem Hintergrund natürlich ein hervorragender Ort für die Versammlung.

    Inzwischen laufen die Vorbereitungen für die 200-Jahr-Feier der GDNÄ im Jahr 2022. Wie sehen Sie die Zukunft der traditionsreichen Gesellschaft?
    Der fachübergreifende Austausch unter Wissenschaftlern und mit der Öffentlichkeit – das ist ja der GDNÄ-Markenkern – ist heute wichtiger denn je. Auch andere Wissenschaftsinstitutionen veranstalten jetzt große Tagungen mit öffentlichen Anteilen, ich denke zum Beispiel an die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft oder an die Leopoldina und die Länderakademien. Das ist eine gute Entwicklung.  Was die GDNÄ jedoch von anderen Wissenschaftsorganisationen unterscheidet: Sie hat Lehrer, Schüler und interessierte Bürger als Mitglieder. Mein Vorschlag wäre, künftig noch mehr nach außen zu gehen: mit hochwertigen Angeboten für die Mitglieder und starken Impulsen in die Gesellschaft. Da sehe ich einen großen Bedarf und zu solchen Initiativen leiste ich sehr gerne meinen Beitrag.

    Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies
    Professor Detlev Ganten.

    Zur Person

    Prof. Dr. Ganten kam im März 1941 in Lüneburg zur Welt. Er studierte Medizin in Würzburg, Montpellier und Tübingen und erwarb den Titel „Philosophical Doctor, PhD“ an der McGill Universität in Montreal/Kanada. 1973 kehrte er nach Deutschland zurück, um eine Professur am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg anzutreten. Nach dem Fall der Mauer wurde er 1991 als Gründungsdirektor an das Max- Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) nach Berlin-Buch berufen. Von 2004 bis 2008 war Ganten Vorstandsvorsitzender der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Von 1993 bis 1998 wirkte er als Mitglied des Wissenschaftsrats und von 1997 bis 2001 als Vorsitzender der Helmholtz-Gemeinschaft. Von 2002 bis 2007 war Detlev Ganten Mitglied im Nationalen Ethikrat, von 1992 bis 1998 Präsident der World Hypertension League und von 1996 bis 1998 Präsident der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Von 2009 bis 2020 leitete er als Gründungspräsident den World Health Summit.

    Die Bluthochdruckforschung ist der wissenschaftliche Schwerpunkt Gantens. Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche Ehrungen im In- und Ausland, darunter 1990 den Max-Planck-Forschungspreis, den japanischen Okamoto-Preis sowie den CIBA-Preis des Council für High Blood Pressure Research der American Heart Association (1992). Ihm wurde die Ehrendoktorwürde mehrerer Universitäten im In- und Ausland zuerkannt. Im Jahre 1997 erhielt er den Verdienstorden des Landes Berlin, 2000 das Bundesverdienstkreuz und 2003 die Ernennung zum Ritter der französischen Ehrenlegion. Detlev Ganten ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und weiterer Akademien.

    Neben seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat Detlev Ganten mehrere populärwissenschaftliche Bücher (mit-)verfasst: „Leben, Natur, Wissenschaft: Alles, was man wissen muss“ (2005), „Die Steinzeit steckt uns in den Knochen“ (2009) und „Die Gesundheitsformel“ (2014). Sein neues Buch, eine zusammen mit Ernst Fischer erstellte Doppelbiografie über Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow, erscheint 2021 unter dem Titel „Die Idee des Humanen“.

    Meister ihres Fachs: Vor dem zentralen Gebäude des MDC in Berlin-Buch erinnert eine Büste an den Genetiker, Biophysiker und Nobelpreisträger Max Delbrück, der bis 1937 in Berlin forschte und dann in die USA auswanderte.

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