„Wichtig ist mir die Anwendungsorientierung“

Peter Liggesmeyer, Informatiker und Mitglied im GDNÄ-Vorstandsrat, über Künstliche Intelligenz, drohende Innovationshemmnisse und bezahlbare Zelltherapien.

Herr Professor Liggesmeyer, derzeit spricht alle Welt von ChatGPT. Ist das auch in Fachkreisen so, etwa an Ihrem Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE?
Ja, über Chatbots wird auch bei uns diskutiert – nicht erst seit ein paar Monaten, sondern schon seit Jahren. Am IESE steht dahinter ein allgemeines Fachinteresse, an der Universität Kaiserslautern, wo ich seit fast zwanzig Jahren lehre und forsche, geht es um den Einsatz von ChatGPT in der Lehre oder um die Beurteilung studentischer Leistungen. Diese Themen werden im Kollegenkreis kontrovers diskutiert. Ich denke aber, dass sich zeigen wird, dass das vollständige Verbot der Nutzung von Systemen wie ChatGPT genauso wenig sinnvoll ist wie seine uneingeschränkte Nutzung.

Wie ist Ihre Haltung?
Sprachmodelle wie ChatGPT können aus wenigen Stichworten geschliffene Texte produzieren, aber sie ersetzen nicht den oft mühsamen, arbeitsaufwändigen Wissenserwerb, um den es an der Universität geht. Die Modelle eignen sich beispielsweise für schnelle Literaturrecherchen und können insofern wertvolle Dienste leisten. Das Feld ist derzeit sehr volatil, es gibt gute Argumente für und gegen den Einsatz von Chatbots an der Hochschule. Ich denke, wir sollten die Entwicklung eine Zeitlang beobachten und nach einer angemessenen Zeitspanne zu Entscheidungen kommen.

ChatGPT hat das Thema Künstliche Intelligenz schlagartig ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Wie sehen Sie die Entwicklung auf diesem Gebiet?
Auch ich kann nur darüber staunen, wie schnell alles geht und was heute möglich ist. Die erzeugten Ergebnisse werden immer besser. Das ist kein Vergleich mehr zu den frühen, sperrigen KI-Lösungen,  mit denen ich als Doktorand Anfang der 1990er-Jahre gearbeitet habe. Der große Schub kam in den letzten Jahren, vor allem durch hochleistungsfähige Rechner und die Verfügbarkeit großer Mengen von Daten. Aber im eigentlichen Sinne intelligent sind auch die durchaus imponierenden Systeme natürlich nicht.

Wo steht Deutschland in der KI-Forschung im internationalen Vergleich?
Mit dem bundesweit agierenden Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, dem DFKI, und seinen Partnerunternehmen können wir in Forschung und Entwicklung gut mithalten. Hinzu kommen zahlreiche KI-Forscher an Hochschulen und Forschungseinrichtungen, unter anderem auch bei uns am Fraunhofer IESE. Insgesamt sehe ich hier große Chancen für unser Land. Ein Innovationshemmnis könnte der geplante EU AI Act werden, ein Gesetz zur Regulierung von KI-Anwendungen auf europäischer Ebene. Die Ziele des Vorhabens sind durchaus ehrenhaft; ich fürchte allerdings, dass die zu erwartende Umsetzung zu einem Technologiehemmnis mit negativen Wirkungen auch in der Praxis werden könnte. Wir kennen das von der Datenschutzgrundverordnung DSGVO, die sehr sinnvolle Ziele verfolgt, uns aber bei der Internetnutzung im Namen des Online-Datenschutzes täglich mit Ausfüllmasken konfrontiert. Das sollten wir unbedingt vermeiden.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Fraunhofer IESE

Arbeitsraum im Fraunhofer IESE.

Als Forscher arbeiten Sie seit gut dreißig Jahren im Schnittbereich von Informatik und klassischer Ingenieurwissenschaft. Gibt es einen roten Faden, der Ihre Projekte verbindet?
Ja, ganz eindeutig. Mein Fokus zu Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn waren Themen aus dem Bereich Software-Qualitätssicherung. Inzwischen steht die Sicherheit digitaler Systeme im Vordergrund. Dabei geht es um zwei Arten von Sicherheitsrisiken: um Gefährdungen der Systeme von außen im Sinne des englischen Begriffs „security“, aber auch um „safety“, also um Gefahren, die von den Systemen selbst ausgehen. Safety-Risiken gibt es zum Beispiel bei selbstfahrenden Autos, in autonom agierenden Industrie-4.0-Umgebungen oder auch in der Medizintechnik. Wenn derartige Systeme mithilfe maschinellen Lernens selbstständig Entscheidungen treffen sollen, so müssen als Grundlage erforderlicher Zertifizierungen Restrisiken bestimmt werden. Das ist aktuell für maschinelle Lernkomponenten nicht möglich, wäre aber wichtig, und daher wird daran geforscht. Menschen sind gut darin, im Alltag ständig praktikable Lösungen für komplizierte Aufgaben mit Unwägbarkeiten zu finden. Man wird technische Lösungen der Zukunft daran messen müssen, ob sie Ähnliches leisten können. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja, und zwar MY DATA Control Technologies aus meinem Fraunhofer-Institut. Das ist eine Software zur individuellen Datennutzungskontrolle. Sie erlaubt die Festlegung und Überwachung der Einhaltung von Regeln zur Nutzung von Daten. So könnte man etwa die Nutzung der eigenen Daten zum Zweck der medizinischen Forschung autorisieren, gleichzeitig aber auch einen umfassenden Datenschutz vorsehen, der die Nutzung derselben Daten etwa für Werbezwecke verbietet. Was mit den eigenen Daten geschieht, bestimmt immer die Daten-Spenderin oder der Spender. Das System kommt in komplizierten Situationen mit simplen Regeln zu tragfähigen Kompromissen, so wie wir Menschen es Tag für Tag tun. 

Wie wichtig ist Ihnen der praktische Nutzen Ihrer Forschung?
Wichtig ist mir die Anwendungsorientierung meiner Forschungsarbeiten. Wenn die Ergebnisse später praktisch genutzt werden, so ist das natürlich besonders motivierend. Mit dieser Idee im Kopf löst sich der künstliche Widerspruch zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung auf. Auch industrielle und akademische Forschung rücken näher zusammen. Entsprechend engagiere ich mich an meiner Universität in den Bereichen „Nutzfahrzeugtechnik“, „Baustelle der Zukunft“ sowie „Region und Stadt“. In der Fraunhofer-Gesellschaft bin Mitglied des Sprecherteams des Strategischen Forschungsfelds „Intelligente Medizin“. 

Intelligente Medizin: Was können wir uns darunter vorstellen?
Aktuell entwickeln wir zusammen mit mehreren Fraunhofer-Instituten automatisierte Produktionstechnologien für neuartige Impfstoffe und Zelltherapien auf mRNA-Basis. Wir nutzen dabei Lösungen, die im Kontext unserer Forschung zu Industrie 4.0 entstanden sind, um künftig hochwirksame und bezahlbare individualisierte Arzneimittel herstellen zu können. Eine durchaus intelligente und sinnvolle Idee, wie ich finde.

Labor im Innsbrucker Institut für Quantenoptik und Quanteninformation © IQOQI/M.R.Knabl

© Fraunhofer IESE

Hauptgebäude des Fraunhofer IESE in Kaiserslautern.

Seit einigen Monaten sind Sie Mitglied des GDNÄ-Vorstandsrats. Was hat Sie motiviert, die Wahl in dieses Ehrenamt anzunehmen?
Zum einen die Interdisziplinarität der GDNÄ, die sehr gut zu meiner beruflichen Laufbahn passt. Mein Diplom in Elektrotechnik habe ich 1988 mit dem Schwerpunkt Datentechnik gemacht. Die Kombination von Informatik und Ingenieurwissenschaften zieht sich durch meinen Lebenslauf. In der GDNÄ möchte ich diese Fächer voranbringen und gleichzeitig ihre interdisziplinäre Verknüpfung fördern. Zum Beispiel durch neue Brückenschläge zur Deutschen Physikalischen Gesellschaft oder zur Gesellschaft für Informatik. Interessante Bezugspunkte gibt es auch zwischen Ingenieurwissenschaften, Informatik und Medizin, etwa auf dem Gebiet der RNA-Therapien. Ich sehe die GDNÄ als Kristallisationskern vielversprechender Kooperationen.  

Könnte das ein Argument für den akademischen Nachwuchs sein, sich stärker in der GDNÄ zu engagieren?
Davon bin ich überzeugt. Die jungen Leute wissen, wie wichtig fachübergreifende Zusammenarbeit für echte Durchbrüche ist. Ganz wichtig ist dabei die Verwurzelung im eigenen Fach – darauf hinzuweisen ist mir ein Anliegen. Denn nur wer sich auf seinem Gebiet gut auskennt, kann in interdisziplinären Teams erfolgreich sein.

DLR_Anke_Kaysser-Pyzalla

© Fraunhofer IESE

Prof. Dr. Peter Liggesmeyer

Zur Person

Seit 2004 leitet Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Liggesmeyer das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern; im gleichen Jahr übernahm er auch den Lehrstuhl für Software Engineering am Fachbereich Informatik der Technischen Universität Kaiserslautern. Von 2014 bis 2017 war er Präsident der Gesellschaft für Informatik.

Nach einem Studium der Elektrotechnik mit Schwerpunkt Datentechnik an der Universität Paderborn promovierte Liggesmeyer 1992 an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Von 1993 bis 2000 baute er in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung der Siemens AG ein Fachzentrum im Bereich Sicherheitsanalyse und Risikomanagement auf. Parallel dazu nahm Peter Liggesmeyer Lehraufträge am an der der TU München, der TU Ilmenau, der FSU Jena und der RUB wahr. Dort habilitierte er sich im Jahr 2000 zum Thema „Qualitätssicherung softwareintensiver technischer Systeme“. Von 2000 bis 2004 war er Professor für Softwaretechnik und Qualitätsmanagement am Hasso-Plattner-Institut (HPI) an der Universität Potsdam. Peter Liggesmeyer erhielt mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen, ist Mitherausgeber etlicher Fachzeitschriften und Autor zahlreicher Fachartikel und Fachbücher, darunter das Standardwerk „Software-Qualität“. Zudem berät er führende Unternehmen und Organisationen und ist Wissenschaftlicher Sprecher des Forschungsbeirats Industrie 4.0. Im Herbst 2022 wurde er als Fachvertreter Mathematik/Informatik in den Vorstandsrat der GDNÄ gewählt.

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