„Wer nicht selbst denkt, lernt nicht richtig“
Paul Mühlenhoff, Leiter des GDNÄ-Schülerprogramms, über verblüffende Erlebnisse mit ChatGPT, Täuschungsversuche in der Schule und Diskussionen im Lehrerzimmer.
Herr Mühlenhoff, über ChatGPT wird seit Monaten lebhaft diskutiert. Haben Sie eigene Erfahrungen mit dem Textgenerator?
Ich habe ChatGPT das erste Mal im Spätherbst 2022 ausprobiert und fand das Programm selbst in der damals noch frühen Version überraschend gut. Erfragt habe ich Übungsfragen zu einer Oberstufen-Unterrichtseinheit über den Roman „Der Trafikant“ – nur zu Testzwecken, nicht für eine konkrete Anwendung. Die Ergebnisse kamen sehr schnell, waren durchaus anspruchsvoll und schienen für die Zielgruppe geeignet zu sein. Beeindruckend fand ich, dass das Programm mir mitteilte, was es noch nicht wusste. Trotz mancher Defizite war damals schon klar, wohin die Reise geht: Diese Systeme werden immer besser werden.
In der Debatte über ChatGPT an Schulen fordern manche ein Verbot, andere betonen die Chancen. Welche Position vertreten Sie?
Ein Verbot wäre meines Erachtens sinnlos. ChatGPT und andere generative Sprachmodelle kommen auf uns zu und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Unsere Aufgabe als Lehrkräfte ist es, die Funktionsweise zu erläutern und Missbrauch zu verhindern.
Nach einer Erhebung des Digitalverbands Bitkom hat die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Deutschland ChatGPT bereits beim Erledigen von Hausaufgaben, zum Schreiben von Texten oder zur Prüfungsvorbereitung verwendet. Wie ist das an Ihrer Schule?
An meiner Schule, dem Helmholtz-Gymnasium in Bielefeld, wird ChatGPT vor allem in der Oberstufe genutzt. Wie es in der Mittelstufe aussieht, weiß ich nicht genau. Ich vermute, dass es dort noch keine große Rolle spielt.
© Timo Voss, Studio of Thoughts | Helmholtz-Gymnasium Bielefeld
Das Bielefelder Helmholtz-Gymnasium, hier im Luftbild, wurde 1896 gegründet. Unter dem Motto „Ein modernes Gymnasium mit Tradition“ unterrichten heute rund 100 Lehrkräfte etwa 1000 Schülerinnen und Schüler.
Für welche Zwecke nutzen die Jugendlichen an Ihrer Schule den Chatbot?
Soweit ich es beobachten kann, vor allem zum Ausprobieren und Spielen. Allerdings kam dieses Jahr auch schon in Einzelfällen der Verdacht missbräuchlicher Nutzung auf. Es ging zum Beispiel um Facharbeiten, also um Arbeiten, die ohne schulische Aufsicht zu Hause angefertigt werden und deren Note so gewichtet wird wie eine Klausurnote. Wenn sich deutliche Abweichungen zwischen den Arbeiten und den bisherigen Leistungen zeigen, werden wir natürlich stutzig.
Wie hat Ihre Schule in dieser Situation reagiert?
Da wir in der Beweispflicht stehen, haben die Kollegen die Arbeiten sehr genau unter die Lupe genommen. Wissend, dass ChatGPT auch Quellenangaben generieren kann, prüften sie bei einer Facharbeit zum Beispiel, ob Bielefelder Bibliotheken über die in der Arbeit angegebenen Bücher verfügen. Den Verdacht, dass Facharbeiten mit Hilfe anderer Personen, etwa den Eltern, angefertigt wurden, gab es auch schon früher. Aber ChatGPT eröffnet da ganz neue Dimensionen. Daher wird in unserem Kollegium bereits darüber diskutiert, ob Facharbeiten bisheriger Machart in Zukunft überhaupt noch akzeptabel sind. Müssen sie durch mündliche Prüfungen ergänzt werden oder gilt es, ganz neue Wege zu finden?
In anderen Schulen wird das vermutlich genauso sein. Wie reagieren die Schulbehörden auf die Herausforderung?
Das Ministerium für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen hat schnell reagiert und einen gut gemachten Handlungsleitfaden für den Umgang mit textgenerierenden KI-Systemen herausgebracht. Auch andere Bundesländer haben entsprechende Empfehlungen veröffentlicht.
Wie steht es um die Lehrerfortbildung zu KI allgemein und Chatbots im Speziellen.
Es gibt solche Angebote. Für mich wären sie aber erst interessant, wenn sie konkret auf meine Fächer Deutsch und Biologie zugeschnitten sind. Noch ist das nicht der Fall.
Sie haben ChatGPT schon früh getestet. Hatte das Folgen für Ihren Unterricht?
Ja, ich habe die neue Technik im Unterricht in der Oberstufe zeitnah zum Thema gemacht. Wir haben darüber gesprochen, wie Chatbots funktionieren, was sie können und was nicht. Es ging auch um die unsichere Quellenlage und datenschutzrechtliche Bedenken: Immerhin muss man seine Mobilnummer bekanntgeben, um ChatGPT umfassend nutzen zu können. Es ging mir in dem Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern aber vor allem darum, sie frühzeitig vor der Verlockung zu warnen, das KI-Modell als „Hausaufgabenhelfer“ zu nutzen. Kurzzeitig wäre die Nutzung von Vorteil, aber wer nicht selbst denkt, lernt auch nicht richtig. Und das ist ja die Gefahr, die dahinter steckt. Wir haben ChatGPT dann aber nicht weiter im Unterricht verwendet.
Können Sie und Ihre Kollegen erkennen, ob eine Hausaufgabe von Schülern oder von einem Chatbot gemacht wurde?
Bisher hatte ich noch keinen Verdachtsfall. Ich würde aber behaupten, dass wir Lehrer ziemlich schnell erkennen, ob es sich um eine eigene Leistung handelt oder nicht. Wir können das Leistungsvermögen unserer Schüler durch die Mitarbeit im Unterricht und die Klausuren sehr gut einschätzen – Diskrepanzen fallen da schnell auf. In meinen Fächern sehe ich ohnehin kaum Spielraum für den Einsatz von ChatGPT für Hausaufgaben. Die beziehen sich in der Regel auf Materialien mit Texten und Grafiken und damit kann man die KI noch nicht so einfach füttern. Bei simplen Definitionsaufgaben ist das vielleicht etwas anderes. Aber die fallen bei uns nicht groß ins Gewicht.
In welcher Weise könnte ChatGPT in Ihren Fächern nützlich sein?
Das ist eine schwierige Frage, da die Anwendungsbereiche unglaublich umfassend und viele Fragen für uns Lehrer noch ungeklärt sind. Einen möglichen Nutzen sehe ich vor allem dort, wo die Schüler im Dialog mit der KI stehen und ihre Prompts, also ihre Anfragen, immer präziser formulieren müssen, um zum Ziel zu kommen. In diesem Prozess findet dann das Lernen statt. Im Fach Biologie wäre etwa denkbar, Experimente zunächst hypothetisch zu entwickeln oder gar einen Versuchsablauf zu modellieren. Im Fach Deutsch fände ich es zum Beispiel spannend, gezielt Dialoge eines Roman- oder Dramenausschnitts von der KI interpretieren zu lassen und die Plausibilität der Begründungen mit den Schülern zu diskutieren. Kann eine KI Ironie erfassen? Wieviel Kontext braucht sie dafür? Diese Fragen zu beantworten, wäre auch für das eigene Verständnis literarischer Texte durchaus nützlich.
Wird ChatGPT die Schule grundlegend verändern, wie manche vorhersagen?
Nein, das glaube ich nicht, jedenfalls nicht in den klassischen Schulfächern. Im Informatik-Unterricht dürfte das anders sein. Was sicher unberührt durch die neue Technik bleibt, ist unser Auftrag als Lehrer: Wir sollen junge Menschen zum selbstständigen Lernen erziehen und Wissen vermitteln. ChatGPT kann dabei möglicherweise helfen und den Unterricht bereichern, vor allem in der Oberstufe.
© MIKA-fotografie | Berlin
Sie leiten das Schülerprogramm der GDNÄ. Wird ChatGPT bei der nächsten Programmrunde 2024 eine Rolle spielen?
Die Schüler setzen sich ja immer mit Fragen auseinander, die sie selbst formuliert haben – so wird es auch 2024 in Potsdam sein. Vom Schülerprogramm aus gibt es keine Vorgaben, weder inhaltlich noch methodisch. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ChatGPT künftig zur Recherche herangezogen wird. Und ich bin überzeugt, dass die Schüler ihr Vorgehen transparent offenlegen werden.
© Stefan Diesel
Paul Mühlenhoff ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Biologie.
Zur Person
Paul Mühlenhoff leitet das groß angelegte Schülerprogramm der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Der Lehrer für Deutsch und Biologie war lange Jahre am XLAB – Göttinger Experimentallabor für junge Leute tätig. Seit 2019 unterrichtet er in den Jahrgängen 5 bis 12 am Helmholtz-Gymnasium in Bielefeld. Es wurde 1896 gegründet und bezeichnet sich selbst als „moderne Schule mit Tradition“. Dort gehen täglich um die tausend Schüler und hundert Lehrer ein und aus.
Weitere Informationen:
Was ist ChatGPT? – Antwort der Redaktion
ChatGPT ist ein Chatbot, der auf jede Frage eine Antwort hat und alles zu wissen scheint. Ein Chatbot ist ein Sprachmodell, das sich mit Menschen in natürlicher Sprache „unterhalten“, Informationen liefern und Texte schreiben und umformulieren kann. Das Sprachmodell basiert auf künstlicher Intelligenz (KI). Es berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der Wörter aufeinander folgen, und bildet daraus Sätze. Um die menschliche Sprache nachahmen zu können, wurde die Software mit einer großen Menge von Texten trainiert. ChatGPT kann hervorragende Ergebnisse liefern, wenn man gute Fragen stellt. Es kann aber auch mit größter Selbstverständlichkeit Blödsinn verzapfen. Wichtig ist es daher, die Antworten einem Faktencheck zu unterziehen. Das „Chat“ im Namen bezieht sich auf die Fähigkeit des Programms, sich mit Nutzern in natürlicher Sprache unterhalten zu können, das Kürzel GPT steht für Generative Pre-trained Transformer (auf Deutsch etwa: vorgeschulter Transformer). Entwickelt wurde der Chatbot von dem kalifornischen Unternehmen Open AI.
Was ist ChatGPT? – Antwort von ChatGPT
ChatGPT ist ein fortschrittliches KI-Modell, das auf dem GPT-3.5-Architektur basiert, welches von OpenAI entwickelt wurde. Es ist darauf spezialisiert, in natürlicher Sprache mit Benutzern zu interagieren und ihnen bei der Beantwortung von Fragen oder der Lösung von Problemen zu helfen. ChatGPT kann Texteingaben verstehen, Kontext verstehen und generieren sowie menschenähnliche Antworten erzeugen. Es wurde durch maschinelles Lernen auf großen Mengen an Textdaten trainiert, um ein breites Wissen in verschiedenen Themenbereichen zu erlangen. Es ist in der Lage, Konversationen zu führen, Anweisungen zu geben, Informationen bereitzustellen und vieles mehr.
(Ergebnis einer Abfrage am 4. Juli 2023)