„Die Kooperation mit China ist unverzichtbar“

Forschung in der Zeitenwende: Warum der langjährige Wissenschaftsmanager Ernst-Ludwig Winnacker zu behutsamer Kontinuität rät und wo er neue Potenziale sieht. 

Herr Professor Winnacker, über Jahrzehnte haben Sie sich für die Internationalisierung der deutschen Wissenschaft eingesetzt. Was hat Sie dazu bewogen und was wurde erreicht?
Wissenschaft kennt keine Grenzen und sie gedeiht kaum in intellektueller Isolation. Eines der letzten Universalgenies, Gottfried Wilhelm Leibniz, ist dafür ein gutes Beispiel: Er gab sich nicht zufrieden mit Diskussionen im heimischen Hannover, sondern suchte zeitlebens den Wettbewerb mit europäischen Peers – etwa mit Christiaan Huygens in Amsterdam und Isaac Newton in London. Derart vernetzt zu arbeiten, ist heute unverzichtbar. Bei meinem Amtsantritt als DFG-Präsident habe ich die Internationalisierung daher zu einem Schwerpunkt gemacht. Wir haben dann nicht nur internationale Graduiertenkollegs gegründet, sondern auch Büros in wichtigen Partnerländern wie den USA, in Russland, China, Japan und Indien. Darüber hinaus habe ich als Vorsitzender der EUROHORCS, also der European Union Research Organisations Heads Of Research Councils, den Aufbau eines transnationalen, europäischen Forschungsrates nach dem Muster der DFG vorbereitet. Der European Research Council, kurz ERC, nahm 2007 die Arbeit auf und ich konnte als erster Generalsekretär zum Zusammenwachsen in der Forschung beitragen. 

Heute haben wir einen Krieg in Europa, die Feindseligkeiten zwischen den Großmächten nehmen zu, die unaufhaltsam scheinende Internationalisierung stockt. Erleben wir das Ende eines goldenen Zeitalters, auch in der Wissenschaft?
Die Nachkriegszeit bis in die frühen Nullerjahre des 21. Jahrhunderts könnte man vielleicht als ein goldenes Zeitalter der Wissenschaft bezeichnen. Aber mit zunehmenden Restriktionen in etlichen Ländern ist es damit vorbei. So hat die Schweiz im Jahre 2014 Einwanderung und Personenfreizügigkeit begrenzt und damit ihre bilateralen Verträge mit der EU gebrochen. Für den ERC ist das Land daher nur ein Partner unter vielen. Im Jahr 2020 folgte der Brexit, der das Vereinigte Königreich für den ERC zum nichtassoziierten Drittland machte. Die Zahl der britischen und schweizerischen Staatsangehörigen in EU-Programmen ist in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Für die europäische Forschung ist das ein herber Verlust, denn sowohl die Schweiz als auch Großbritannien verfügen über hervorragende Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Gerade auch für Deutschland waren sie jahrzehntelang wichtige Partner. 

Als DFG-Präsident eröffneten Sie im Jahr 2000 zusammen mit der chinesischen Partnerorganisation das Chinesisch-Deutsche-Wissenschaftszentrum in Peking. Es sollte die Zusammenarbeit beider Länder in Forschung und Lehre stärken. Was ist daraus geworden?
In der Tat haben wir damals ein gemeinsames Gebäude mit der National Natural Science Foundation of China, kurz NSFC, in unmittelbarer Nachbarschaft zu deren Hauptgebäude in Peking gebaut. Das Zentrum gibt es bis heute. Inzwischen ist die Zusammenarbeit mit China viel schwieriger als damals. Seinerzeit galt China als Entwicklungsland. Heute ist es zum strategischen Wettbewerber geworden. Dennoch: Das Chinesisch-Deutsche Zentrum ist eine Erfolgsgeschichte und ich bin stolz darauf. Das Zentrum hat uns intensive wissenschaftliche Kontakte und Kooperationen in diesem riesigen Land gebracht, das nach seiner Einwohnerzahl rund zehn Mal größer als Russland ist und enorme wissenschaftliche Potenziale birgt. 

Eine kürzlich erschienene Studie der Hoover Institution an der Stanford-Universität kritisiert die enge Zusammenarbeit. Ihr Autor, Jeffrey Stoff, zitiert Hunderte von Publikationen, an denen deutsche und chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt sind. Wie bewerten Sie die Studie?
Erfreulicherweise sind im Laufe der Jahre viele gemeinsame Publikationen entstanden, wovon die meisten von der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) gefördert wurden. Unsere beiden Wissenschaftsorganisationen hatten sich in den 1990er-Jahren die akademische Welt Chinas aufgeteilt: Die MPG arbeitete hauptsächlich mit der chinesischen Wissenschaftsakademie CAS zusammen, die DFG mit der NSFC, beziehungsweise mit den einzelnen Universitäten. Diese Art der Zusammenarbeit begrüßten die Amerikaner noch bis weit in die Nullerjahre hinein. Mehr noch: Sie nahmen sich uns sogar zum Vorbild. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Auftritt mit Professor Arden Bement, dem ehemaligen Chef der DFG-Partnerorganisation in den USA, der National Science Foundation, als diese 2006 ihr eigenes Zentrum in Peking eröffnete. Heute sieht man in den USA die Zusammenarbeit mit China sehr viel kritischer. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die deutsch-chinesische Zusammenarbeit in der Wissenschaft jetzt in Stanford derart aufs Korn genommen wird. 

Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger rief im Frühjahr 2022 zur Achtsamkeit in Wissenschaftskooperationen mit China auf. Ein berechtigter Appell?
Ja und nein. Manche Fragen, etwa im IT- und KI-Bereich, lassen sich auf nationaler Ebene lösen. Andere Themen, beispielsweise im Bereich Klimaschutz oder in der Meeresforschung, bedürfen intensiver, internationaler Zusammenarbeit – auch mit China. Weil die Ergebnisse vieler dieser Projekte finanzielle Konsequenzen haben oder von militärischem Nutzen sein können, gilt es genau zu prüfen, wer mit wem wo zusammenarbeitet und wie die Ergebnisse kommuniziert werden. Einfach ist die Situation sicherlich nicht. So spielt bei uns die grundgesetzlich garantierte Forschungsfreiheit eine zentrale Rolle, in China ist das nicht der Fall. Und wenn Staatschef Xi Jinping dieser Tage die Fusion von ziviler und militärischer Forschung fordert, dann muss uns das nachdenklich stimmen. Eindeutige Dual-Use-Projekte, deren Ergebnisse also sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, sollten aus meiner Sicht ohne Beteiligung chinesischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stattfinden. Die Leopoldina hat zusammen mit der DFG zum Thema Dual Use kluge Empfehlungen verabschiedet. Sie sollten es erleichtern, hier das richtige Augenmaß zu finden. 

In Deutschland studieren rund vierzigtausend Chinesinnen und Chinesen und viele von ihnen fertigen hier ihre Master- und Doktorarbeiten an. Ein Sicherheitsrisiko?
Möglicherweise ja. Aber wie soll man das überprüfen? Eine Kontrolle durch eine zentrale Stelle wäre wohl kaum praktikabel. Für sinnvoller halte ich es, die Arbeiten einzeln auf ihren gegebenenfalls sensiblen Charakter zu überprüfen. Die Verantwortung dafür sollte in der Hand der Projektleitungen oder der Prüfungskommissionen liegen. 

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wurden die Forschungsprojekte mit Russland auf Eis gelegt oder beendet. Welche Zukunft haben die traditionsreichen deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen?
Solange Russland diesen Krieg führt, können institutionelle Kooperationen nicht mehr stattfinden. Die Bundesregierung hat hier ihr „Roma locuta – causa finita“ beschlossen Das finde ich richtig und angemessen. 

Institutionelle Kooperationen sind das eine, persönliche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in Russland und China das andere. Deutsche Wissenschaftler pflegen solche Verbindungen seit vielen Jahren. Was davon ist heute noch begrüßenswert, was akzeptabel und was geht zu weit?
Was Russland angeht, halte ich private wissenschaftliche Kontakte derzeit für kaum verantwortbar, denn sie können dortige Forscherinnen und Forscher gefährden. Falls solche Verbindungen jedoch aufrechterhalten werden, müssen die institutionellen Träger darüber informiert werden. Transparenz ist hier das A und O. China führt derzeit keinen Krieg gegen einen Nachbarn. Wir sollten aber, wie schon beschrieben, genau hinzuschauen und manche Projekte nicht finanzieren. Dennoch halte ich die wissenschaftliche Zusammenarbeit gerade mit China für wünschenswert, wenn nicht sogar für unverzichtbar. Schließlich besitzt das Land hervorragende Universitäten und Forschungsorganisationen. Im neuesten Times Higher Education-Ranking für 2023 rangieren Tsinghua und Peking an den Plätzen 16 und 17, die besten deutschen Universitäten, die beiden Münchener Unis, folgen erst auf den Plätzen 30 und 33. 

Welche Zukunft sehen Sie für die großen internationalen Programme in Raumfahrt, Umwelt- und Energieforschung? Denken wir etwa an die ISS, an Klimaforschung und physikalische Grundlagenforschung.
Die Programme sollten weitergehen, sofern die Sanktionen das erlauben. Aber die ständige Erörterung von Meinungsverschiedenheiten, etwa zum Umgang mit Minderheiten wie den Uiguren, muss Teil unseres wissenschaftlichen Profils sein. Da dürfen wir im Umgang mit der chinesischen oder der russischen Seite keine Ruhe geben.  

Wie beurteilen Sie die deutsche Außenwissenschaftspolitik als Mittel der Diplomatie?
Außenwissenschaftspolitik entsteht immer dann, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler internationale Kontakte pflegen. Diese spiegeln dann nicht nur die Qualität der jeweiligen Projekte und Personen wider, sondern zeugen auch von der Bedeutung der Wissenschaftssysteme und Institutionen, aus denen sie stammen. Oft finden solche Kontakte unterhalb der Radarschirme offizieller Einrichtungen statt und gelegentlich werden sie genutzt, wenn eine Zusammenarbeit nicht gleich offiziellen Charakter haben soll. Außenwissenschaftspolitik war immer wieder ein großes Thema, beispielsweise als es seinerzeit um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel ging.  Drei Wissenschaftler, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Feodor Lynen, die das Vertrauen von Chaim Weizmann genossen, reisten in den 1950er-Jahren nach Israel, um Wege zu einem Treffen von Ben Gurion und Konrad Adenauer zu bahnen. Ob es derzeit Wissenschaftler gibt, deren Ansehen groß genug ist, um zusammen mit russischen Kollegen die russische Regierung zu beeinflussen, wage ich zu bezweifeln. In Sachen Außenwissenschaftspolitik gibt es ein sehr schönes Buch mit dem Titel „Wettlauf ums Wissen“, herausgegeben von Georg Schütte und erschienen im Jahr 2008. Vielleicht sollte man jetzt, nach der proklamierten Zeitenwende, eine Neuauflage dieses Buchs beziehungsweise einer Konferenz zu diesem Thema erwägen. 

Welchen Weltregionen sollte Deutschland sich in der Wissenschaft künftig stärker zuwenden? Wo schlummern Potenziale?
In Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur, Thailand, Indien, Brasilien, Argentinien und Chile. Das kleine Singapur hat mindestens zwei bedeutende Universitäten, auf deren Basis der Stadtstaat Mitglied im Human Frontier Science Program (HFSP) werden konnte. Ähnliches gilt für Japan und Südkorea. Japan war Ende der 1990-er Jahre Initiator dieses Programms, das bis heute existiert und jährlich an die 55 Millionen US-Dollar für Spitzenwissenschaft ausgibt. Seinerzeit hatte Japan keinen besonders guten Ruf in der Wissenschaft, was sich inzwischen grundlegend geändert hat. Bei Taiwan denkt man an die National Taiwan University (NTU), aber auch an die Academia Sinica und den Chemie-Nobelpreisträger Yuan T. Lee, der bis 2006 Präsident der Academia Sinica war. Ich habe ihn oft in Lindau getroffen, und einmal auch in Taipeh in der Akademie besucht. Eine stärkere wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Taiwan lohnt sich auf jeden Fall. Mit Indien pflegt die DFG seit Jahrzehnten intensive wissenschaftliche Beziehungen, insbesondere mit den diversen Indian Institutes of Technology (IITs), aber auch mit der INSA, der indischen Akademie der Wissenschaften, und dem International Center of Genetic Engineering and Biotechnology (ICGEB) mit seinen beiden Zweigstellen in Triest und in Delhi. Während meiner Präsidentschaft wurde sogar ein DFG-Büro in Delhi eingerichtet. Die Kooperation mit Ländern in Südamerika hat eine lange Tradition und eine vielversprechende Zukunft, etwa beim Betrieb von Großteleskopen, in Umweltwissenschaften und biomedizinischer Forschung. 

Welche Rolle kann die GDNÄ als deutschsprachige Wissenschaftsgesellschaft in der modernen Wissenschaftswelt spielen?
Die GDNÄ muss als glaubhafte Vermittlerin von Wissenschaft tätig sein, heute mehr denn je. Vielleicht sollte sie sich zu diesem Zweck stärker mit anderen Akteuren zusammentun, beispielsweise mit der Leopoldina. Ein guter Ansatzpunkt wäre das Engagement für Schülerinnen und Schüler. In diesem Bereich hat die GDNÄ in den vergangenen Jahren Beeindruckendes geleistet.

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© Michael Till / LMU

Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, GDNÄ-Präsident in den Jahren 1999 und 2000.

Zur Person

Ernst-Ludwig Winnacker kam 1941 in Frankfurt/Main zur Welt. Er studierte Chemie an der ETH Zürich und wurde dort 1968 promoviert. Es folgten Postdoktorate an der University of California, Berkeley, von 1968 bis 1970 und am Karolinska-Institut in Stockholm (1970–1972). 1980 wurde Winnacker zum Professor für Biochemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ernannt; 1984 übernahm er die die Leitung des Laboratoriums für Molekulare Biologie – Genzentrum der Universität München. Von 1987 bis 1993 war Ernst-Ludwig Winnacker Vizepräsident und von 1998 bis 2006 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Während dieser Zeit, von 1999 bis 2000, war er Präsident der GDNÄ. Von 2007 bis 2009 fungierte er als Erster Generalsekretär des European Research Council in Brüssel und von 2009 bis 2015 als Generalsekretär des Human Frontier Science Program in Straßburg. Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien, darunter der Leopoldina und der National Academy of Medicine der USA und hat zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, den Order of the Rising Sun, Gold and Silver Star des Kaiserreichs Japan und den International Science and Technology Cooperation Award der Volksrepublik China. Winnacker ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Dazu zählen neben dem Lehrbuch „Gene und Klone. Eine Einführung in die Gentechnologie“ (1984) die Sachbücher „Das Genom“, (1996), „Viren, die heimlichen Herrscher“ (1999) und „Mein Leben mit Viren“ (2021).

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