„Wir digitalisieren in großem Stil“
Dr. Matthias Röschner über die Online-Zukunft des GDNÄ-Archivs, wichtige Forschungsfragen und Glanzstücke der Sammlung.
Herr Dr. Röschner, das erste Jahr als Archivleiter im Deutschen Museum ist um – wie geht es Ihnen in der neuen Position?
Da ich bereits seit 2009 im Archiv tätig gewesen bin, ist der Übergang zum Archivleiter einigermaßen fließend verlaufen. Natürlich haben sich meine Aufgabenschwerpunkte verschoben und vermehrt, aber mein Vorgänger Herr Dr. Füßl hat mich wunderbar vorbereitet. Ich freue mich also, gemeinsam mit einem hochmotivierten Team die Zukunft des Archivs weiter gestalten zu können.
Wie können wir uns Ihre Tätigkeit vorstellen?
Sie ist abwechslungsreicher als manche vermuten. Ich bin befasst mit allen Abläufen im Archiv – von der Erwerbung von Archivalien über die Organisation ihrer Erschließung, konservatorischen Maßnahmen und der Digitalisierung bis hin zur Koordinierung der Nutzung. Neben der Forschung liegt mir auch die Öffentlichkeitsarbeit sehr am Herzen: Ich halte Vorträge, biete Führungen an und schreibe allgemeinverständliche Beiträge, um Interessierten die Archivarbeit und unsere wertvollen Archivalien näherzubringen. Viel Zeit verbringe ich mit dem Beantworten von wissenschaftlichen Anfragen.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Wenn etwa eine Forscherin aus Berlin fragt, welche Quellen wir zur Professionalisierung des Ingenieurwesens am Ende des 19. Jahrhunderts haben, recherchiere ich mit meinem Wissen über die Bestände etwa in den Nachlassunterlagen von Rudolf Diesel, Oskar von Miller, Franz Reuleaux, Walther von Dyck und anderen Personen und schicke ihr Listen zu relevanten Archivalien. Damit ist die Wissenschaftlerin für einen erfolgreichen Besuch bei uns im Lesesaal in München gut vorbereitet.
Ein ordentliches Pensum für eine Vollzeitstelle…
…da kommt noch einiges hinzu. Zum Beispiel die wichtige Gremienarbeit, etwa im Rahmen der Leibniz-Gemeinschaft, des Bayerischen Archivtags oder im Münchner Archivkreis, und Querschnittsaufgaben wie die Personalführung und die Kontaktpflege zu Universitäten und wissenschaftshistorischen Instituten. Für die GDNÄ durchforste ich regelmäßig wissenschaftliche Antiquariate und Auktionskataloge und verfolge vielversprechende Spuren, um Fehlendes ergänzen zu können.
Mit Erfolg?
Ja, durchaus. Wir konnten zum Beispiel einige Originaldokumente aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Privatbesitz von Vorstandsmitgliedern einwerben. Aber es gibt nach wie vor große Lücken, vor allem durch das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von den Sowjets beschlagnahmte und seither verschollene Altarchiv.
In herbstlichem Licht: Das Ausstellungsgebäude auf der Münchner Museumsinsel. © Deutsches Museum
Ihr Vorgänger, Herr Dr. Füßl, hat sich immer wieder für die Rückgabe der Sammlung eingesetzt. Werden Sie das auch tun?
Ja, wir behalten das natürlich weiter im Blick. Aber ich glaube nicht, dass wir unser Ziel schnell erreichen. Der Ukrainekrieg verdüstert die Aussichten zusätzlich.
Welchen Stellenwert hat das Archiv der GDNÄ für Ihr Haus?
Die GDNÄ ist die älteste interdisziplinäre wissenschaftliche Gesellschaft Deutschlands und Mutter renommierter Fachgesellschaften im In- und Ausland – ihr Archiv ist daher von großer nationaler Bedeutung. Hinzu kommt: Im Unterschied zu anderen Wissenschaftsinstitutionen, deren Archive im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurden, sind von der GDNÄ wenigstens einige historische Stücke aus der Frühzeit erhalten geblieben.
Was ist besonders eindrucksvoll?
Zum Beispiel der neunseitige Druck einer Rede von 1828, in der Alexander von Humboldt für die Einrichtung von Sektionen warb und damit die erste große Reform der GDNÄ einleitete. Oder die handschriftliche Teilnehmerliste von der Versammlung 1834 in Stuttgart. Auch der Brief von Albert Einstein aus dem Jahr 1913 ist sehr beeindruckend. Der Physiker bittet hierin, seinen Vortrag in einer gemeinsamen Sitzung für Mathematik und Physik halten zu dürften, da er auf „einige Formeln eingehe, damit das, was ich vorzubringen habe, nicht zu vag[e] sei.“
Im Internet findet man noch kaum etwas zum GDNÄ-Archiv im Deutschen Museum. Wollen Sie das ändern?
Ja, wir sind gerade dabei, unsere Bestände in großem Stil zu digitalisieren. In den nächsten Jahren wird man Erschließungsdaten für alle Archivalien im Netz finden, mit Angaben zu Titel, Umfang und zeitlicher Einordnung. Dadurch sind weltweite Recherchen zu Themen, Personen, Institutionen und Unternehmen möglich – und Verknüpfungen mit anderen Nachlässen und Beständen, die in der analogen Welt nicht vorstellbar sind. Wir werden auch Digitalisate zu den Archivalien online anbieten, sofern keine urheberrechtlichen Einwände bestehen. Das trifft zum Beispiel auf die Versammlungsberichte von 1822 bis 1900 zu, mit denen ich gerne ein eigenes Projekt zur Digitalisierung mit anschließender Volltexterkennung machen würde.
Das klingt aufregend, aber auch nach viel Aufwand. Wie groß ist Ihr Team?
Mit mir arbeiten elf Archivarinnen und Archivare, die auch ohne Zusatzprojekte gut zu tun haben. Wir werden jedoch tatkräftig unterstützt von unserer hauseigenen Offensive „Deutsches Museum Digital“. Sie ist dabei, die wissenschaftlichen Bestände und Objektsammlungen des Museums über ein zentrales Online-Portal öffentlich verfügbar zu machen. Spätestens im Jahr 2025, zum hundertsten Geburtstag der Eröffnung der Münchner Museumsinsel, soll das Ziel erreicht sein, alle verfügbaren Daten und Digitalisate im Internet recherchieren zu können.
Ein Ort für konzentriertes Arbeiten: der Lesesaal des Archivs. © DMA CD 65461a
Finden Sie noch Zeit für eigene Forschung?
Weniger als früher, aber ich interessiere mich aktuell sehr für die Provenienzforschung. Das heißt, wie und unter welchen Umständen kamen Objekte und Archivalien an das Deutsche Museum? Im Museum gibt es eine bereichsübergreifende Arbeitsgruppe, die diesen Forschungsfragen nachgeht und die ich zusammen mit einem Kollegen aus dem Bereich der Objektsammlungen koordiniere. Das Archiv spielt dabei eine tragende Rolle, weil hier die historischen Verwaltungsakten des Museums verwahrt werden. Geplant ist auch eine gemeinsame Publikation, in der ich mich mit der Provenienz von Archivbeständen einbringen möchte.
Welche offenen Forschungsfragen sehen Sie, wenn Sie an die jüngere GDNÄ-Geschichte denken?
Da gibt es einiges, zum Beispiel: Wie hat die GDNÄ es nach dem Krieg geschafft, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen? Welche persönlichen und thematischen Kontinuitäten gibt es zwischen NS- und Nachkriegszeit? Kaum aufgearbeitet ist auch das Thema Frauen und GDNÄ. Die bei uns vorhandenen Dokumente würden für solche Recherchen viel hergeben, davon bin ich überzeugt.
Bei der Jubiläumsversammlung in Leipzig wird Ihr Haus mit einem Stand vertreten sein. Was erwartet die Besucherinnen und Besucher?
Wir zeigen in einer Posterausstellung einige Glanzstücke des GDNÄ-Archivs, darunter die Medaille zum hundertsten Jubiläum der GDNÄ mit einem Porträt von Lorenz Oken auf der Vorder- und der Stadtansicht von Leipzig auf der Rückseite und dazu die Festschrift zur Leipziger Versammlung 1922. Zu sehen sind auch kunstvoll im Jugendstil gestaltete Publikationen aus dem frühen 20. Jahrhundert und der erwähnte Einstein-Brief. Gern stehen wir für Gespräche zur Verfügung und freuen uns über Hinweise auf interessante neue Dokumente für die Sammlung. Zu finden sind wir im Markt der Wissenschaften im Untergeschoss der Leipziger Kongresshalle, wo auch mehrere wissenschaftliche Institute aus Leipzig mit Ständen vertreten sind.
Was Sie über Ihre Arbeit berichten, passt so gar nicht zu den Vorstellungen von staubigen Akten und Ärmelschonern, die viele Laien mit Ihrem Beruf verbinden. Was hat Sie als junger Mensch animiert, in diese Richtung zu gehen?
Schon während meines Geschichtsstudiums war ich von den – im wahrsten Sinne des Wortes – einmaligen Archivquellen fasziniert. Es ist schon etwas ganz Besonderes, mit Briefen, Notizbüchern, Berichten und Zeichnungen zu arbeiten, die nur ein einziges Mal existieren und die vor mir oftmals nur eine Person, nämlich die Schreiberin oder der Schreiber, in Händen hielten. Ich habe in mehreren Praktika herausgefunden, dass der Beruf sehr zukunftsorientiert und mit viel Verantwortung verbunden ist. Denn nur diejenigen Unterlagen, die die Archivarin oder der Archivar als „archivwürdig“ bewertet und dann tatsächlich ins Archiv übernimmt, werden künftigen Generationen zur Verfügung stehen. Als Archivar kann ich die Faszination des Originals nicht nur für mich selbst entdecken, sondern auch an andere Menschen weitergeben. Neben meiner Aufgabe der Erwerbung und Bewahrung historischer Quellen verstehe ich mich vor allem als Vermittler von Informationen und Brückenbauer zwischen Geschichte und Gegenwart.
Matthias Röschner. © Privat
Zur Person
Dr. Matthias Röschner ist Leiter der Hauptabteilung Archiv des Deutschen Museums in München. Zuvor war er Stellvertreter von Dr. Wilhelm Füßl, der 2021 in den Ruhestand wechselte. Röschner stammt aus Südhessen, studierte Latein und Geschichte und wurde 2001 mit einer Studie zur Krankenhausgeschichte promoviert. Anschließend absolvierte er ein Archivreferendariat und arbeitete von 2004 bis 2009 am Staatsarchiv Ludwigsburg. In seiner Forschung beschäftigt sich Matthias Röschner zum Beispiel mit der Geschichte des Deutschen Museums, der Provenienz von Archivbeständen und kolonialen Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft. Er ist der verantwortliche Redakteur von „ARCHIV-info“, der Archivzeitschrift des Deutschen Museums.
In Vorbereitung auf die 85. GDNÄ-Versammlung 1913 in Wien: handschriftlicher Brief des zum Vortrag eingeladenen Albert Einstein. © DMA FA 016 vorl. Nr. 1042
Weitere Informationen:
Titelblatt der berühmten Rede Alexander v. Humboldts vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte 1828 in Berlin. © DMA CD 86986
Plakat des Archivs im Deutschen Museum. @ DMA CD 71578