„Tausende neue Arten zutage gefördert“

Fast wäre die Tiefsee-Expedition „AleutBio“ kurz vor dem Start gescheitert. Doch aus dem Beinahe-Drama wurde ein Erfolg. Wie das gelang, schildert die Meeresbiologin und Fahrtleiterin Angelika Brandt.

Frau Professorin Brandt, vor einem Jahr, am 17. Juli 2022, brachen Sie mit dem Forschungsschiff „Sonne“ auf, um die Artenvielfalt der nordostpazifischen Tiefsee zu erkunden. Als Fahrtleiterin waren Sie zuständig für das wissenschaftliche Programm. Wie haben Sie die gut sechs Wochen auf See erlebt?
Es war die schwierigste Fahrt meines Lebens – und ich habe schon viele Expeditionen geleitet. Die Probleme begannen mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, also fünf Monate vor dem geplanten Start. Daraufhin wurden von deutscher Seite die Wissenschaftsbeziehungen zu Russland eingefroren. Betroffen war auch unsere sechs Jahre lang vorbereitete deutsch-russische Expedition, bei der wir die Biodiversität im östlichen Kurilen-Kamtschatka-Graben, im Aleutengraben und im Beringmeer untersuchen wollten. Beginnen und enden sollte die Fahrt in Petropawlowsk-Kamtschatski. Seit Ende 2021 hatten wir die erforderlichen Genehmigungen in der Tasche, die Finanzierung war gesichert, das Schiff im Prinzip startklar. Die Vollbremsung drei Monate vor Fahrtbeginn hat erstmal alles durcheinandergewirbelt.

Wie haben Sie es geschafft, trotzdem pünktlich loszufahren?
Wir haben uns sofort zusammengesetzt und viel mit dem Bundesforschungsministerium und der Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe diskutiert. Schließlich einigten wir uns auf eine neue Route, die vom Startpunkt Dutch Harbor auf der US-Insel Unalaska in weitgehend unbekannte Tiefseebereiche im Ostpazifik führen und in Vancouver enden sollte. Der Expeditionsantrag lief über das Auswärtige Amt, das sich bei den amerikanischen Behörden für uns einsetzte. Es folgten spannende Wochen, in der wir die Fahrt weiter vorbereiteten, ohne zu wissen, ob und wann sie stattfinden kann. Durch eine internationale Ausschreibung gelang es uns, die freigewordenen acht Forschungsplätze kurzfristig neu zu besetzen. Keine ganz leichte Aufgabe, denn auf die Ausschreibung bewarben sich 70 hochqualifizierte Wissenschaftler. Als dann zwei Wochen vor dem geplanten Fahrtbeginn, am 3. Juli 2022, die Bewilligung für unser Vorhaben kam, war die Freude riesengroß. Aleutian Biodiversity Studies konnte Fahrt aufnehmen – als „AleutBio Expedition SO293“.

Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI). © IQOQI/M.R.Knabl

© Anne-Cathrin Wölfl & Kevin Kess, Geomar

Stationen der internationalen AleutBio-Expedition im Beringmeer und Aleutengraben.

Wie war das Leben an Bord?
Erfreulich und anstrengend zugleich. Als Team haben wir wunderbar funktioniert. Wie üblich arbeiteten wir durchgehend im Schichtbetrieb. Mühselig war die Arbeit unter Coronabedingungen: Wir mussten ständig Masken tragen, auch an Deck, und uns täglich auf das Virus testen. Trotz großer Vorsicht hatten wir in den sechs Wochen elf Coronafälle, was das tägliche Miteinander natürlich erschwerte. Und dass der Sportraum aus Hygienegründen geschlossen blieb, gefiel den jungen Leuten im Team gar nicht. Über den Alltag an Bord und unsere Forschung haben wir täglich in unserem AleutBio-Blog berichtet, der oft aufgerufen wurde.

Und wie erging es Ihnen als Fahrtleiterin?
Ich bekam täglich nur vier bis fünf Stunden Schlaf, aber das war ich von früheren Expeditionen gewöhnt. Was mir mehr zu schaffen machte, war die Maskenpflicht. Ich bin schwerhörig und lese vieles von den Lippen meiner Gesprächspartner ab. Oft habe ich darum gebeten, die Maske abzunehmen und aus zwei Meter Abstand mit mir zu sprechen. 

Forschungsarbeit in der Tiefsee: Wie können wir uns das vorstellen?
Ganz wichtig ist die moderne Meerestechnik an Bord der Sonne. Das Schiff verfügt über ein zwölf Kilometer langes Tiefseekabel, an dem schwere Geräte für die Entnahme von Proben abgesenkt werden. Es gibt autonome und ferngesteuerte Unterwassergeräte und -fahrzeuge an Bord, dazu etliche Greifersysteme und geschleppte Geräte wie der Epibenthosschlitten. Der öffnet sich erst am Meeresboden und sammelt zusammen mit dem Tiefseeschlamm jene Organismen ein, die an der Bodenoberfläche oder knapp darunter leben. An Deck wartet das Wissenschaftlerteam, um die mit dem Tiefseeschlamm heraufgeholten Tierchen herauszusieben, herauszupicken, zu sortieren und zu fotografieren. Der Rest des Sediments wird mit Ethanol fixiert, um ihn Tage später unter dem Binokular auf Kleinstlebewesen zu untersuchen. Nach dem Ende der Expedition werden die Proben in gekühlte Container gepackt und für weitere Untersuchungen in die Heimatlabore verschickt. In meinem Institut in Frankfurt nahmen wir im Oktober und Dezember vergangenen Jahres zwei Container in Empfang.

AleutBio-Team © 2022, Thomas Walter, Expedition SO293 AleutBio

© 2022, Thomas Walter, Expedition SO293 AleutBio

Das AleutBio-Team in einer ruhigen Minute und ausnahmsweise ohne Maske.

Das klingt nach einer Bilderbuch-Expedition. Lief denn bei AleutBio alles so glatt?
Die Startbedingungen waren schwierig, aber danach lief es überwiegend gut. Problematisch war der Verlust von zwei Landern, die nach dem Absetzen auf dem Meeresboden im Beringmeer beziehungsweise im Aleutengraben selbsttätig biogeochemische Parameter messen und aufzeichnen sollten. Wir haben es zwei Tage und Nächte versucht, aber es gelang uns nicht, die Lander wieder an Deck zu bringen. Schließlich mussten wir weiterfahren und den US-Behörden eine Verlustmeldung schicken. Das war natürlich ein Rückschlag. Unser Sedimentgreifer, ein sogenannter Multicorer, verhalf uns dann aber doch noch zu Proben aus dieser Ozeanregion. Wir müssen sie nun außerhalb ihres ursprünglichen Lebensraums im Labor untersuchen – mit den Landern wäre eine Analyse im natürlichen Kontext möglich gewesen. 

Was genau wollten Sie bei Ihrer Expedition herausfinden?
Uns interessiert immer, wie es in der Tiefsee aussieht und welche Organismen dort vorherrschen. Darüber hinaus ging es diesmal um zwei große Themen. Topografisch weiß man, dass die pazifischen Tiefseegräben von den Aleuten über den Japangraben bis zum Marianengraben untereinander verbunden sind. Aber gilt das auch für die Fauna? Oder haben die dort lebenden Arten wenig bis nichts miteinander zu tun? Dann die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Nordpazifik und Arktischem Ozean: Welche Arten finden sich dort jeweils, wie schnell breiten sie sich aus und welche Besonderheiten gibt es? Die Antworten auf solche Fragen sind unter anderem wichtig, wenn es um die Verlegung von Tiefseekabeln geht oder um den Tiefseebergbau, der jetzt immer mehr forciert wird. Und in Zeiten des Klimawandels müssen wir wenigstens ansatzweise verstehen, was in den Ozeanen passiert, welche Organismen wohin wandern, welche Bestände schrumpfen oder vom Aussterben bedroht sind.

Die Bühne in der Kongresshalle am Zoo Leipzig hielt dem Ansturm der Schülerinnen und Schüler stand. © MIKA-fotografie | Berlin

© 2022, Thomas Walter, Expedition SO293 AleutBio

Moderne Schiffs- und Meerestechnik an Bord der Sonne: Epibenthosschlitten (links), Agassiz Trawl (Mitte), Großkastengreifer (rechts oben), Multicorer (rechts unten).

Gibt es schon erste Erkenntnisse?
Ja, einige sind schon publiziert, andere überprüfen wir noch. In großer Tiefe haben wir Arten gefunden, die vom Kurilen-Kamtschatka Graben bis in den Aleutengraben vorkommen, die also über eine Distanz von mindestens dreitausend Kilometer Entfernung die gleiche Art darstellen. Das war bisher nicht bekannt. Im Beringmeer sind uns die außerordentlich unterschiedlichen Lebensräume aufgefallen. Insgesamt haben wir sehr viele neue Arten zutage gefördert, die es in den kommenden Monaten und Jahren genauer zu untersuchen gilt.

Wann und wo kann man die Ergebnisse nachlesen?
Erste Bachelor- und Masterarbeiten sind, wie erwähnt, schon erschienen. Für weitere Auswertungen suchen wir übrigens noch Studierende: Wer sich also für unsere Arbeit interessiert, ist herzlich eingeladen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Größere Publikationen in internationalen Zeitschriften bereiten wir gerade vor. Das gleiche gilt für einen Forschungsband, der umfassend über die AleutBio-Ergebnisse informieren wird. Auf unserer Website berichten wir regelmäßig über neue Veröffentlichungen. Da wird in den nächsten Jahren noch einiges zusammenkommen.

Die Forschungszusammenarbeit mit Russland liegt weiterhin auf Eis. Was wird aus Ihren Verbindungen zu russischen Kolleginnen und Kollegen?
Arbeitsbeziehungen gibt es derzeit nicht und Freundschaften, die über Jahrzehnte entstanden sind, stecken in einer tiefen Krise. Einige Kollegen haben sich im Ukrainekrieg mehr oder weniger auf die Seite Putins geschlagen, was ich nicht akzeptieren kann. Da ist viel Vertrauen verloren gegangen. Wir hören von Repressionen und Denunziationen an russischen Instituten und wissen, dass einige Wissenschaftler ihr Land verlassen haben. Putin hat der Kooperation russischer Forscher mit ausländischen Kollegen enorm geschadet.

Die Bühne in der Kongresshalle am Zoo Leipzig hielt dem Ansturm der Schülerinnen und Schüler stand. © MIKA-fotografie | Berlin

© Chong Chen, JAMSTEC

Neu entdeckte Organismen der Tiefsee, aus verschiedenen Perspektiven fotografiert: A, B: Seesterne, C: Wurmmollusk.

Was haben Sie als Nächstes geplant?
Ich bin fürs Erste vollauf mit der Auswertung der Proben unserer Expedition beschäftigt. Eine Fahrtleitung werde ich voraussichtlich nicht mehr übernehmen, AleutBio war in dieser Hinsicht mein letzter großer Kraftakt. Das hat auch mit dem langen Vorlauf solcher Unternehmungen zu tun. Immerhin warten wir bis zu vier Jahre darauf, dass wir Schiffszeit genehmigt bekommen und ich wäre dann so langsam im Pensionsalter. Daher gebe ich jetzt den Staffelstab an die jüngere Generation weiter. Aktuell unterstütze ich die Atlantikexpedition einer Kollegin. Sie war bereits mehrfach mit den Forschungsschiffen Meteor und Sonne unterwegs, um im Atlantischen Ozean ähnlichen Fragen nachzugehen, wie wir sie im Pazifik bearbeiten. In diesem Herbst fahre ich mit Studierenden auf eine Expedition in den Japangraben. Wenn wir dort die gleichen Arten fänden wie im Aleutengraben, wäre das natürlich spektakulär.

Werden Sie bei einer der nächsten GDNÄ-Versammlungen über Ihre Expedition und deren Ergebnisse berichten?
Ausgesprochen gern.

Paul Mühlenhoff © Stefan Diesel

© Privat

Prof. Dr. Angelika Brandt, Meeresbiologin und Expeditionsleiterin.

Interview mit Angelika Brandt im Kulturprogramm des Saarländischen Rundfunks SR2

Zur Person

Die Meeresbiologin Prof. Dr. Angelika Brandt ist Mitglied des Direktoriums am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt am Main. Sie leitet dort die Abteilung Marine Zoologie sowie die Sektionen für Krebstiere und Fischkunde. Gleichzeitig ist sie Professorin für Spezielle Zoologie an der Frankfurter Goethe-Universität. Zuvor war Angelika Brandt 22 Jahre Professorin an der Universität Hamburg und leitete von September 2004 bis Oktober 2009 das Zoologische Museum der Universität. Die 62-Jährige erforscht die Biodiversität der Makrofauna in der Tiefsee und in den Polarregionen, wobei sie sich auf die Gruppe der Meeresasseln spezialisiert hat. Für ihre Forschung nahm Angelika Brandt bislang an 30 Schiffsexpeditionen teil – mehrfach in leitender Funktion. In Anerkennung ihrer außergewöhnlichen Forschungsleistungen und ihres Engagements zum Schutz der Tiefsee erhielt eine neue Art von Tiefseeasseln kürzlich den Namen Austroniscus brandtae. Angelika Brandt ist Vorsitzende der Gruppe „Biologie“ bei der GDNÄ-Versammlung 2024 in Potsdam.

Weitere Informationen:

Paul Mühlenhoff © Stefan Diesel

© 2022, Thomas Walter, Expedition SO293 AleutBio

Das Forschungsschiff „Sonne“ vor dem Auslaufen im Hafen von Unalaska.

Zahlen zu AleutBio

  • 38 Forscherinnen und Forscher aus 12 Nationen
  • 16 beteiligte Institutionen
  • 3631 zurückgelegte Seemeilen
  • 7230 Meter Tiefe erreicht (Aleutengraben)
  • 44 Tage, 2 Stunden, 34 Minuten an Bord
  • 952 beprobte Stellen
  • 643 Kilometer ausgelegte Tiefseekabel

Kontakt für Bachelor- und Masterarbeiten zu AleutBio:

Prof. Dr. Angelika Brandt angelika.brandt@senckenberg.de