„Herr Geheimrat pflegt wieder nicht zu kommen“

Er betreute das Erbe der GDNÄ drei Jahrzehnte lang, jetzt geht er in Rente: Archivleiter Wilhelm Füßl über kostbare Dokumente, Tücken des Urheberrechts und sein langes Ringen um die Rückgabe historischer Originale.

Herr Dr. Füßl, das Deutsche Museum betreut zahlreiche Archive von wissenschaftlichen Institutionen, darunter auch das Archiv der GDNÄ. Welchen Stellenwert hat es?
Es ist von großer nationaler Bedeutung. Die GDNÄ ist ja nicht nur die älteste interdisziplinäre wissenschaftliche Gesellschaft Deutschlands, sie ist auch die Mutter vieler Fachgesellschaften wie etwa der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Eine weitere Besonderheit: Viele Archive von Wissenschaftsinstitutionen wurden im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört, von der GDNÄ jedoch blieben wenigstens einige historische Bestände erhalten.

Was sind die ältesten Dokumente?
Das sind die Berichte und Verhandlungen der GDNÄ-Versammlungen. Allerdings existieren manche nur als Kopie in unserem Archiv.

Haben Sie darin ein Lieblingsstück?
Besonders interessant finde ich zum Beispiel das Kontobuch aus dem Jahr 1911, demzufolge ein Archivar mit mageren 72 Reichsmark entlohnt wurde; heute würde das einer Kaufkraft von knapp 300 Euro entsprechen. Was ich mir auch gern anschaue, ist das Tagebuch der 15-jährigen Ulrike Schwartzkopff, die ihren Vater 1964 zur Versammlung in Weimar begleitete und ihre Eindrücke und Gedanken auf sehr lebendige, differenzierte und angenehme Weise festhielt. Oder ein Mikrofilm zur Organisation der Berliner Versammlung, wo sich auf einem Brief von 1828 eine Randnotiz Alexander von Humboldts findet: „Herr Geheimrat pflegt wieder nicht zu kommen“. Gemeint war Goethe.

Tagebuch der 15-jährigen Schülerin Ulrike Schwartzkopff von der Versammlung der 103. Versammlung der GDNÄ in Weimar 1964.

Wie können wir uns das GDNÄ-Archiv insgesamt vorstellen?
Es handelt sich vor allem um Tagungsbände mit Berichten von Versammlungen, um Vortragsmanuskripte, Geschäftsberichte des Vorstands, Akten der Geschäftsstelle und um einige Hundert Fotografien. Das Archivgut stammt zum überwiegenden Teil aus der Zeit nach 1945, wobei die Dichte ab 1960 stark zunimmt. Ältere Bestände wurden bei Kriegsende von sowjetischen Truppen beschlagnahmt und in Richtung Moskau abtransportiert. Sie sind bis heute verschollen. Die noch erhaltenen Alt-Akten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert waren im Privatbesitz von Vorstandsmitgliedern oder wurden von uns akquiriert. Ein Großteil dieser Dokumente stammt aus den Jahren 1893 bis 1921.

Wo findet man das Archiv im Deutschen Museum?
Es ist im obersten Stockwerk des Bibliotheksgebäudes untergebracht. Das GDNÄ-Archiv umfasst inzwischen stattliche 23 Regalmeter und ist damit eines unserer größten Institutionenarchive. Der Lesesaal liegt nur wenige Meter von den Magazinen entfernt, und bestellte Dokumente werden schnell herbeigeschafft. So lohnt sich der Weg auch für eilige Besucher.

Wie groß ist das Interesse am GDNÄ-Archiv?
In den letzten zwanzig Jahren wurden mehr als 500 Akten ausgeliehen. Das ist eine beachtliche Zahl, auch im Vergleich zur Nutzung ähnlicher Archive im Deutschen Museum.

Wissen Sie Näheres über die Nutzer?
Aus Gesprächen weiß ich, dass viele Wissenschaftler darunter sind. Aber das ist beileibe keine Voraussetzung. Alle Interessierten sind willkommen und können die Bestände kostenfrei lesen oder mit ihrer Digitalkamera für private Zwecke ablichten.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Mathematiker im Gruppenbild anlässlich der Versammlung der GDNÄ im Jahr 1890.

Das klingt etwas umständlich. Sind die Unterlagen nicht auch online verfügbar?
Dahin würden wir gern kommen, aber dem steht vor allem das Urheberrecht entgegen. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Urhebers – eines Vortragenden bei einer GDNÄ-Versammlung beispielsweise oder seiner Nachfahren –, darf das Werk erst siebzig Jahre nach seinem Tod frei genutzt werden. Für uns heißt das: Sofern keine Einverständniserklärung vorliegt, und das ist bei älteren Dokumenten selten der Fall, dürfen wir Vorträge, Briefe oder Berichte nur dann veröffentlichen, wenn sie aus der Zeit vor 1885 stammen. In die Zukunft gedacht könnte das für einen Vortrag, den eine 40-jährige Wissenschaftlerin bei der Jubiläumstagung 2022 in Leipzig hält, Folgendes bedeuten: Wird die Forscherin 90 Jahre alt, darf ihre schöne Rede frühestens im Jahr 2142 ohne Auflagen verbreitet werden. Das ist natürlich ein Witz.

Gibt es da eine pragmatische Lösung?
Bei neueren Dokumenten kaum. Ältere Publikationen könnte man über die Online-Dienste anderer Bibliotheken nutzen. Sobald nämlich ein Dokument im Internet steht, darf man sich darauf beziehen. Denkbar wäre es also, eine Liste mit Links zu solchen Quellen ins Netz zu stellen – und genau das wird derzeit erwogen.

Ihre Arbeit geht also deutlich über das schnelle Herbeischaffen von Unterlagen hinaus. Was gehört alles dazu?
Oh, da kommt einiges zusammen. Nehmen wir als Beispiel das GDNÄ-Archiv. Es kam 1989 hier an, also drei Jahre vor meinem Dienstantritt, und umfasste damals 13 Regalmeter. Im Jahr 2001 kamen weitere zehn Regalmeter dazu. So ein Bestand muss erst einmal fachlich geordnet und systematisch mit anderen Beständen vernetzt werden. Ein Ergebnis sind sogenannte Findbücher mit einem umfangreichen Inhaltsverzeichnis und vielen Schlagwörtern, die zu potenziell relevanten Informationen im gesamten Archivgut führen. Dann gibt es in vielen anderen Beständen unseres Archivs Material zur GNDÄ. Wer etwa über den Physiker Walther Gerlach forscht und dessen Nachlass durchforstet, erhält Hinweise auf Vorträge des GDNÄ-Mitglieds Gerlach in den 1950er-Jahren – nicht nur per Findbuch, sondern auch im Gespräch mit uns. Darüber hinaus pflegen wir den Kontakt zu wissenschaftshistorischen Instituten in ganz Deutschland und regen Forschungsarbeiten zu unseren Beständen an. Auf diese Weise ist beispielsweise eine Dissertation über das Wirken der GDNÄ zwischen 1822 und 1913 an der Universität Würzburg entstanden. Und, ganz wichtig: Wir durchstöbern regelmäßig wissenschaftliche Antiquariate und Auktionskataloge, um Lücken in unserem Bestand schließen zu können.

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Das verpackte GDNÄ-Archiv vor dem Abtransport in die Sowjetunion (um 1945).

Wie weit sind Sie damit beim GDNÄ-Archiv gekommen?
Manches ließ sich nachkaufen, aber den großen Verlust historischer Akten konnten wir nicht ausgleichen. Wir wissen, dass das GDNÄ-Archiv bis kurz vor Kriegsende am angestammten Platz im Leipziger Karl-Sudhoff-Institut war und dann zum Schutz ins nahegelegene Schloss Mutzschen ausgelagert wurde. Das nützte aber nichts: 1945 konfiszierten die Sowjets insgesamt 53 Kisten und eine Rolle mit den Archivnummern 34 bis 86 und brachten sie außer Landes. Ich bin seit 1992 an der Sache dran und habe über politische, akademische und persönliche Kanäle alles Mögliche versucht. Die Hoffnung war, wenigstens Mikrofilme von den GDNÄ-Beständen zu bekommen. Zunächst kam keine Reaktion. Was man denn wolle, hieß es später listig aus Moskau, man habe das Archiv der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde doch zurückgegeben. So ging das jahrzehntelang. Ich bin mir sicher, dass das Archiv der GDNÄ nicht zerstört wurde – es lagert wahrscheinlich irgendwo in einem russischen Museum. Wir müssen wohl auf politisches Tauwetter warten, um in der Sache voranzukommen.

Enthält das verschollene Archiv auch Dokumente aus der NS-Zeit?
Davon gehe ich aus. Uns liegt jedenfalls kein einziges Originaldokument aus diesen Jahren vor.

Sie erwähnten die Versammlung 1964 in Weimar – die erste und einzige GDNÄ-Veranstaltung in der DDR. Wissen Sie darüber Näheres?
Normalerweise nehmen wir keine Massenakten in unser Archiv auf, also zum Beispiel Geschäftskorrespondenzen mit Mitgliedern oder Teilnehmerverzeichnisse von Versammlungen. Für die DDR-Zeit haben wir bei der GDNÄ eine Ausnahme gemacht.  Wir wissen, dass die Tagungsbände über die Leopoldina in Ostdeutschland verteilt wurden und bis zur Wende sehr begehrt waren, auch wenn 1949 viele Ost-Mitglieder aus der GDNÄ ausgetreten waren. Das alles aufzuarbeiten, wäre ein hochinteressanter Beitrag zur Forschung.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Mitgliedskarte der GDNÄ für den bedeutenden Chemiker und Industriellen Carl Duisberg.

Sie haben demnächst mehr Zeit…
Das stimmt. Ende Mai gehe ich in den Ruhestand und übergebe die Geschäfte an meinen bisherigen Stellvertreter, den Historiker Dr. Matthias Röschner. Aber die Wissenschaftsgeschichte der DDR ist nicht mein Metier, da sind andere berufen. Ich bleibe meinen Themen treu und habe schon ein paar Buchprojekte im Sinn.

Zum Beispiel?
Eine Biografie des Ingenieurs Arthur Schönberg. Er war der erste Mitarbeiter des Gründers des Deutschen Museums Oskar von Miller. Über ihn habe ich 2005 eine Biografie veröffentlicht. An Arthur Schönberg, der 1943 im KZ Theresienstadt ums Leben kam, erinnert heute eine Ehrentafel im Deutschen Museum. 

Steht auf Ihrem Plan auch ein Besuch der GDNÄ-Versammlung 2022 in Leipzig?
Seit 1992 war ich bei den meisten Versammlungen dabei und habe sehr spannende Vorträge gehört. Einer ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, es ging um die Ausdehnung des Universums. Was ich auch genossen habe, waren die Begegnungen mit großartigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Also, ja, ich denke, ich werde in Leipzig dabei sein.

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Schlechte Bezahlung im Jahr 1912: Zwei Archivare verdienen 71,85 Mark.

Dr. Wilhelm Füßl
Dr. Wilhelm Füßl

Zur Person

Dr. Wilhelm Füßl kam 1955 in der Oberpfalz zur Welt. Er studierte Geschichte, Germanistik und Sozialkunde an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wurde dort 1986 mit einer Arbeit über den Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl promoviert. Nach Tätigkeiten im In- und Ausland wechselte er 1991 an das Deutsche Museum in München. 1992 übernahm er die Leitung des Archivs. In dieser Funktion ist Wilhelm Füßl bis zum Eintritt in den Ruhestand im Mai 2021 kooptiertes Vorstandsmitglied der GDNÄ – ein Amt, das Dr. Matthias Röschner als neuer Archivleiter übernimmt.

Das Forschungsinteresse Dr. Füßls gilt der Geschichte technischer Sammlungen und den Wechselwirkungen zwischen Biografien und Wissenschafts- bzw. Technikgeschichte. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die Bücher „Geschichte des Deutschen Museums. Akteure, Artefakte, Ausstellungen“ (2003) und, im Jahr 2005 erschienen, „Oskar von Miller (1855–1934). Eine Biographie“. Einige Bücher wurden mit Preisen ausgezeichnet. Wilhelm Füßl konzipierte mehrere Ausstellungen, darunter eine Schau zur Geschichte des Deutschen Museums, die dauerhaft gezeigt wird.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Cover der Festschrift anlässlich der Versammlung in München 1899.

Das Archiv des Deutschen Museums

Das Archiv des Deutschen Museums zählt zu den weltweit führenden Spezialarchiven zur Geschichte der Naturwissenschaft und Technik. Auf 4,7 Regalkilometern im Bibliotheksgebäude auf der Münchener Museumsinsel werden Nachlässe bedeutender Wissenschaftler und Forscher, Handschriften und Urkunden, Pläne und technische Zeichnungen, umfangreiche Archive von Firmen und wissenschaftlichen Institutionen sowie mehr als eine Million Fotografien verwahrt und für Recherchen aufbereitet. Das Archiv steht allen offen, die sich für Technik- und Wissenschaftsgeschichte interessieren. Die Benutzung ist kostenfrei. 

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Blick in einen Magazinraum des Archivs des Deutschen Museums.

Weiterführende Links:

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Bereits im Jahr 1900 engagierte sich die GDNÄ für die schulische Jugend. Hier ein Dokument zum Thema „Unterrichtsreform“.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Aufruf zur Sammlung von historischen Unterlagen zur GDNÄ, ca. 1921.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Bürgerrechtsurkunde für den Gründer der GDNÄ, Lorenz Oken, aus dem Jahr 1835.