Tag 2: Freitag, 9. September 2022

Von Mini-Hirschen, Kamerafallen und neuen Materialien

So viele spannende Vorträge an einem Tag, so viele schöne Begegnungen auf dem Flur, dazu der Markt der Wissenschaften mit tollen Exponaten – gar nicht so einfach, alles in einen Tag zu packen. Deshalb reicht es an dieser Stelle, wie gestern auch schon, nur für einige Impressionen – mit einem viel reicheren Programm im Hintergrund. Nussschokoladensplitter sozusagen, um es in Anlehnung an den schönen Beton-Vergleich von Jan Wörner gestern Nachmittag zu sagen.

Lange Vorrede, los geht’s: Der Freitag begann mit einem Vortrag von Dr. Andreas Wilting zum Thema „Verborgenen Wildtieren tropischer Regenwälder auf der Spur“. Andreas Wilting ist Tropenbiologe und forscht am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin-Friedrichsfelde. Mit Blick auf das Tagungsthema „Wissenschaft im Bild“ stellte er in Leipzig zunächst seine Arbeit mit Kamerafallen vor, die ihm ganz neue Einblicke in die Lebenswelt tropischer Regenwälder erlaubt. „Wir dachten zum Beispiel, wir wissen alles über Orang-Utans und waren uns sehr sicher, dass die Tiere sich hauptsächlich in den Baumwipfeln aufhalten.“ Die Kamerafallen auf Borneo aber zeigten den Forschern um Andreas Wilting, dass Orang-Utans sich oft auf dem Boden aufhalten und sich dort, wie man sehen kann, auch sehr wohlfühlen. „Unser bisheriges Weltbild stimmte nicht“, räumt der 43-Jährige ein.

Museumsinsel Ansicht Herbst © Deutsches Museum

© IZW / Re:wild / SIE / NCNP

Mit der Kamerafalle ertappt: ein Vietnam-Kantschil.

Kamerafallen ermöglichten vor einigen Jahren auch die spektakuläre Wiederentdeckung einer Art, des Vietnam-Kantschils. Die erstaunlich kleine Hirschart hatte man für ausgestorben gehalten (siehe Interview in der Randspalte) – die Wiederbegegnung machte weltweit Schlagzeilen. 

In einem weiteren Schritt bringen die Berliner Forscher Kamerafallendaten mit hochauflösenden Satellitendaten zusammen, um funktionelle Karten zur Verbreitung von Arten zu erstellen. So konnten sie beispielsweise zeigen, dass der Klimawandel auch in Tropen bereits schlimme Folgen für die Artenvielfalt hat. Auf Borneo wurden mit der Methode bestimmte Gebiete kartiert, die besonderen Schutz brauchen. 

Angeheizt werde der Verlust von Säugetieren neben dem Klimawandel vor allem durch Waldrodungen und illegale Jagd, vor allem mithilfe von Drahtschlingen, berichtete Andreas Wilting. Zwar würden Ranger im Auftrag von Naturschutzorganisationen immer wieder Drahtschlingen entfernen, aber angesichts von schätzungsweise 13 Millionen dieser Tierfallen allein in Vietnam, Kambodscha und Laos sei der Kampf ziemlich hoffnungslos. Der große Hunger auf Wildtierfleisch, vor allem in asiatischen Großstädten, sei ungebrochen und noch gelte die illegale Jagd als Kavaliersdelikt.

Museumsinsel Ansicht Herbst © Deutsches Museum

© Green Viet

Aufstellung einer Kamerafalle in Vietnam.

Neuerdings kombiniert das Team um Wilting die Daten aus Kamerafallen mit genetischen Daten, gewonnen aus Blutegeln, die in der Umgebung von Fotofallen gefangen werden. „Unsere Blutegelproben enthalten die DNA von mehreren Säugetieren und auch Viren dieser Tiere. Über die Blutegel können wir mögliche neue, noch unbekannte Viren finden können“, sagt der Berliner Forscher. 

Was die Wildtierforscher noch planen? Eine immer großflächigere Erfassung sei das eine, berichtet Andreas Wilting, mehr Tempo das andere: „Wir müssen schneller werden. Oft dauert es Jahre von der Probennahme bis zur Analyse. Wir brauchen eine Fast-Echtzeit-Erfassung der Wildtiere, um sie besser schützen zu können.“

Matthias Röschner © Deutsches Museum

© GDNÄ

Dr. Andreas Wilting

Drei Fragen an Andreas Wilting

Wie kamen Sie zu dieser Forschung?
Entscheidend für meine spezielle Ausrichtung war ein Auslandsjahr während meines Studiums in Nepal und Malaysia. In Nepal konnte ich in verschiedene Artenschutz- und Naturschutzprojekte reinschnuppern, etwa zum Schutz von Tigern. Wir haben das zusammen mit der lokalen Bevölkerung gemacht, das finde ich wichtig. In Malaysia gab es eine gute Kooperation mit einheimischen Fachleuten aus der Forstwirtschaft. Bis heute ist mir der enge Bezug zu den Nutzern meiner Forschung wichtig. 

Was war Ihre faszinierendste Entdeckung?
Wenn ich das nicht allein auf mich beziehen darf, sondern auf meine Arbeitsgruppe: Das Beeindruckendste war die Wiederentdeckung des Vietnam-Kantschils. Vor hundert Jahren wurde diese kaninchengroße Hirschart erstmals beschrieben, vor dreißig Jahren auf einem asiatischen Wildtiermarkt erneut gesichtet. Meine Arbeitsgruppe hat den Fund 2019 in einem Nature-Journal publiziert. Mithilfe von Kamerafallen konnten wir inzwischen drei Populationen in drei Provinzen Vietnams entdecken. Wir suchen jetzt nach weiteren Kantschil-Populationen und setzen mit vietnamesischen Kollegen alles daran, die seltene Tierart zu schützen. Dass uns ähnliche Wiederentdeckungen bei anderen verschollenen Tierarten gelingen, halte ich für unwahrscheinlich. 

Thema Biodiversität: Wo stehen wir in zehn Jahren?
Ich befürchte, dass wir den Artenschwund in diesem Zeitraum nicht aufhalten können, trotz neuer Methoden zur Bestandserfassung. Die Belastungsfaktoren sich einfach zu groß, vor allem durch illegale Jagd, Waldverlust und Klimawandel. Bis die Populationen sich wieder erholen, dauert es mindestens dreißig, vierzig Jahre – falls sich auf vielen Ebenen sehr viel ändert.  

Matthias Röschner © Deutsches Museum

© WWF Viet Nam

Ein Ranger mit eingesammelten Drahtschlingen.

Museumsinsel Ansicht Herbst © Deutsches Museum

Liebig-Denkmünze for Claudia Felser 

Traditionell verleiht die Gesellschaft Deutscher Chemiker ihre Liebig-Denkmünze für hervorragende Leistungen auf dem gesamten Gebiet der Chemie auf den Versammlungen der GDNÄ. In diesem Jahr ging sie an Professorin Claudia Felser, Direktorin am Max-Planck-Institut für die Chemische Physik fester Körper in Dresden. Ausgezeichnet wurde die Chemikerin unter anderem für Design, Synthese und die physikalische Untersuchung neuer Quantenmaterialien.

Drei Fragen an Claudia Felser

Sie sind die erste Frau, die die Liebig-Denkmünze allein erhält. Es gibt diese Auszeichnung seit 117 Jahren. Was sagt Ihnen das?
Wir brauchen mehr Frauen in den Naturwissenschaften und insgesamt in akademischen Führungspersonen. Es wäre toll, schon bald weitere Kolleginnen als Preisträgerinnen zu sehen. Ich bin für den Tenure-Track nach amerikanischem Vorbild, der es ermöglicht, die eigene Karriere langfristig zu planen. Meine Tochter zum Beispiel ist Ingenieurin und promoviert gerade in Deutschland. Sie strebt keine wissenschaftliche Karriere an, weil sie nicht so oft umziehen möchte.

Wie sind Sie denn auf Ihren Weg gekommen?
Ich sollte eigentlich nicht aufs Gymnasium gehen, sondern wurde von meiner Mutter auf die Realschule geschickt. Aber ich war sehr gut in Mathe und Physik und ein Lehrer hat dann dafür gesorgt, dass ich doch aufs Gymnasium kam – in der achten Klasse. Auf der neuen Schule gab es einen Chemielehrer, der mich begeisterte. Er hat mich dann bestärkt, Chemie und Physik zu studieren. Aber das habe ich mir zu dem Zeitpunkt nicht zugetraut, vielmehr machte ich zuerst einen typischen Frauen-Umweg und studierte Sonderpädagogik. Was mich später sehr vorangebracht hat, war die große Freiheit, die ich in meiner Forschung hatte, mein wissenschaftlicher Fokus an der Grenze zwischen Physik und Chemie – und vor allem meine fabelhaften Mentoren, denen ich sehr dankbar bin.

Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
Das Grundlegende und die Anwendungsnähe, beides. Wir machen Experimente mit anorganischen Materialien, um ganz neue Eigenschaften zu entdecken, die nützlich sein könnten, um zum Beispiel Abwärme in Strom zu verwandeln. Abwärme von Autos, von Häusern oder von Kraftwerken. Wir machen außerdem Experimente, von denen wir Auskunft über den Ursprung des Lebens und des Universums erwarten.

Versammlungshashtag: #gdnae200

Weitere Informationen:

Matthias Röschner © Deutsches Museum

© GDNÄ

Prof. Dr. Claudia Felser

Museumsinsel Ansicht Herbst © Deutsches Museum

© Paul Mühlenhoff

Physiknobelpreisträger Professor Reinhard Genzel nach seinem Vortrag bei der GDNÄ, umringt von Schülerinnen und Schülern.