„Die Kinder vermissen ihre Schule“

Paul Mühlenhoff, Gymnasiallehrer in Bielefeld, über Unterricht in Corona-Zeiten, Technik von vorgestern und die Krise als Motor

Herr Mühlenhoff, Sie unterrichten Deutsch und Biologie an einem Bielefelder Gymnasium. Wie gelingt Ihnen das während des Corona-Shutdowns?
Was uns in diesen Wochen sehr hilft, ist der Zugriff auf unseren Schulserver über eine Cloud. Dort stellen wir Lehrer Arbeitsaufträge, Materialien und zu einem späteren Zeitpunkt auch exemplarische Lösungen ein, auf die unsere Schüler zugreifen können. Am einfachsten ist das in den Fächern, die mit Schulbüchern und Arbeitsheften arbeiten. Einige Verlage haben uns kostenlose Digitalversionen zur Verfügung gestellt, die wir nutzen können. Als Klassenlehrer einer fünften Klasse und mit Oberstufenschülern veranstalte ich außerdem ab und zu Videokonferenzen, um mit meinen Schülern im Gespräch zu bleiben.

Wie gestaltet sich die tägliche Zusammenarbeit konkret?
Ich gliedere den Stoff Lektion für Lektion für jede einzelne Unterrichtsstunde, reichere ihn oft mit zusätzlichen Informationen an und bitte meine Schüler, das Pensum eigenständig zu bearbeiten. Die in dieser Zeit erstellten „Corona-Portfolios“ werde ich bei Wiederbeginn des Unterrichts sichten, um sie im persönlichen Gespräch auszuwerten – das ist jetzt aus der Distanz schwierig.

Wird die Mitarbeit derzeit kontrolliert?
Ja, das versuchen wir. Die Schüler fotografieren die gemachten Aufgaben und laden die Bilder in der Cloud hoch und legen sie im Fachordner ab. Das funktioniert ganz gut ab der 7. Klasse – auch wenn die Fotos manchmal etwas schief und verwackelt sind. Bei den Jüngeren gibt es mehr Probleme; die haben auch nicht alle ein Smartphone.

Welchen Eindruck haben Sie von Ihren Schülern in der aktuellen Situation?
Die meisten vermissen die Schule. Und viele Kinder machen sich Sorgen: über Gefahren für die Gesundheit, die Zukunft im Allgemeinen oder, wenn das Abitur naht, über möglicherweise verpassten Stoff. Mein Eindruck ist, dass die leistungsstärkeren Schüler besser mit dem Heimunterricht zurechtkommen. Schwächere Schüler fallen leider weiter zurück, auch weil sie weniger Hilfe von ihren Eltern bekommen. Da wird viel aufzuholen sein, wenn die Schulen wieder öffnen.

Sie und Ihre Kollegen stehen plötzlich vor ganz neuen Herausforderungen. Wie geht es Ihnen?
Kein Lehrer ist glücklich mit der Situation. Uns allen fehlt der direkte Kontakt zu den Schülern. Den können Videokonferenzen zwar abmildern, aber keinesfalls ersetzen. Es fehlt einfach die körperliche Präsenz und per Videokonferenz ist es unmöglich, 31 Schülerinnen und Schüler so zu erreichen, wie es normalerweise im Klassenraum mit etablierter Sitzordnung der Fall ist. Die soziale Dynamik beim Lernen in der Gruppe ist durch kein digitales Medium zu ersetzen.

Sie berichten von Videokonferenzen, einem Schulserver und dem Cloud-Zugang: Ist Ihre Schule demnach technisch auf dem aktuellen Stand?
Nein, leider noch ganz und gar nicht. Der Schulserver bietet nicht sehr viele Möglichkeiten, Rechner und Software sind weitestgehend veraltet und die meisten Klassenräume sind noch nicht einmal mit Beamern ausgestattet – es wird immer noch viel mit Overheadprojektoren gearbeitet. Immerhin: Beamer für alle Klassenräume sollen in den nächsten Jahren kommen und seit einigen Monaten gibt es 16 iPads für den Unterricht, das ist ein halber Klassensatz. Aber problematisch ist nicht nur die digitale Infrastruktur.

Sondern was noch?
Das größte Problem ist nach meiner Meinung die unzureichende Kompetenz von uns Lehrern. Das liegt aber nicht an der mangelnden Bereitschaft, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, sondern damit, dass es neben den fehlenden technischen Mitteln mittlerweile eine verwirrende Vielfalt an Möglichkeiten gibt. Im Fach Biologie habe ich einen ganz anderen Bedarf an digitalen Mitteln als dies im Fach Deutsch der Fall ist. Einige besonders versierte Kollegen arbeiten da schon auf hohem Niveau, aber mit ganz unterschiedlichen Betriebssystemen, Geräten und Softwarelizenzen. Das sind alles individuelle Lösungen, in die man sich mit hohem Zeitaufwand eingearbeitet hat und die privat bezahlt wurden. Noch fehlen Standards für unsere Nutzungszwecke, die in einem weiteren Schritt eine zielgerichtete Fortbildung aller Lehrkräfte ermöglichen würden.

Und doch scheint der Online-Fernunterricht vielerorts ganz gut zu funktionieren.
Jetzt ist plötzlich Druck da und tatsächlich kommt vieles in Gang. An unserer Schule bieten besonders kompetente Kollegen und die System-Administratoren zum Beispiel Online-Fortbildungen für Lehrkräfte und Verwaltungsangestellte an. Die werden sehr gut angenommen. Die Lernbereitschaft unter den Kollegen ist ausgesprochen groß.

In zahlreichen Bundesländern öffnen die Schulen jetzt allmählich wieder. Wie ist das an Ihrer Schule?
Bei uns in Nordrhein-Westfalen ist es so, dass gleich in der ersten Woche nach den Osterferien der Unterricht für den Abiturientenjahrgang wieder aufgenommen wurde. Das Ganze funktioniert so, dass die Schüler in kleinen Gruppen mit ausreichend Abstand zueinander unterrichtet werden. Sie betreten und verlassen die Schule zu unterschiedlichen Zeiten, sodass Ansammlungen vermieden werden. Es gibt strenge Hygiene- und Verhaltensvorschriften und die Lehrer müssen für jede Stunde die Sitzpläne protokollieren. Für die Schulleitungen und Kollegen vor Ort bedeutet diese Neuorganisation viel Arbeit. Parallel läuft der Fernunterricht für alle weiteren Jahrgänge ja weiter.

Derzeit wird viel diskutiert über eine umfassendere Schulöffnung. Wie stehen Sie dazu?
An meinem Gymnasium kommen normalerweise fast tausend Schüler und rund hundert Lehrer zusammen – dicht an dicht im Klassenzimmer, auf engen Fluren und in kleinen Pausenhöfen. Unter diesen Umständen war die Schulschließung absolut vernünftig.
Wann die Schule wieder für alle Schüler öffnen kann, ist von vielen Faktoren abhängig und wird sicherlich auch regional variieren. Wie sind die Infektionsraten in einer Stadt? Wie viele Menschen können getestet werden? Sind Schulen überhaupt Infektionsherde? Derzeit werden ja viele Szenarien diskutiert, darunter auch schrittweises Vorgehen. Die Antworten sind kompliziert und auch abhängig von den Gegebenheiten jeder einzelnen Schule. Ich hoffe, dass wir spätestens im Mai oder Juni wieder den Betrieb für alle Jahrgänge aufnehmen können. Wenn es sein muss, eben auch mit Mundschutz, obwohl das natürlich zu Lasten von Aussprache und Mimik geht.

Gibt es etwas, das sich aus dieser Krise für die Schule lernen lässt?
Sie wird sicher einen großen Schub hin zu Cloud-basierten Arbeitsweisen bringen. Jede Schule braucht einen modernen Schulserver, eine zeitgemäße technische Ausstattung und mehr digitales Know-how im Kollegium. Dass Schüler und Lehrer den direkten Kontakt miteinander nach wenigen Wochen so vermissen würden, hätte wohl niemand so gedacht. Daran wird man sich hoffentlich noch lange erinnern.

Paul Mühlenhoff, Gymnasiallehrer in Bielefeld
Ein Lehrer, eine Schule
Paul Mühlenhoff leitet das groß angelegte Schülerprogramm der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Der Lehrer für Deutsch und Biologie war lange Jahre am XLAB – Göttinger Experimentallabor für junge Leute tätig. Seit 2019 unterrichtet er in den Jahrgängen 5 bis 11 am Helmholtz-Gymnasium in Bielefeld. Es wurde 1896 gegründet und bezeichnet sich selbst als „moderne Schule mit Tradition“. In normalen Zeiten gehen dort täglich um die tausend Schüler und hundert Lehrer ein und aus.