„Anspruchsvolle Forschung, aus berufenem Munde vorgestellt“

Die Förderung junger Forschertalente liegt der Biochemikerin Eva-Maria Neher ganz besonders am Herzen. Sie gründete das Göttinger Experimentallabor für junge Leute (XLAB) und gab dem Schülerprogramm der GDNÄ entscheidende Impulse. 

Frau Professorin Neher, Sie engagieren sich seit vielen Jahren für die GDNÄ: für das Schülerprogramm, in der Gremienarbeit und vor einigen Jahren auch als Präsidentin. Was treibt Sie an?
Ganz klar meine Liebe zur Wissenschaft, vor allem zu den Naturwissenschaften. Ich interessiere mich für viele Gebiete, aber heute ist es fast unmöglich, sich überall auf dem aktuellen Stand zu halten. Da kommt mir die GDNÄ sehr entgegen: Sie bringt auf ihren Tagungen hochkarätige Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen zusammen, die neueste Forschung wie auf dem Silbertablett präsentieren – man muss nur zugreifen. 

Wann hatten Sie zum ersten Mal dieses Silbertablett-Erlebnis?
Das war, ich kann mich noch gut daran erinnern, auf der Versammlung 2004 in Passau. Sie stand unter dem Motto „Raum, Zeit, Materie“. Ich war begeistert von den Vorträgen, von der anregenden Atmosphäre und bin kurz darauf Mitglied geworden.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Das XLAB zieht junge Talente aus aller Welt an. © Sven Dräger

Das war die Zeit, in der Sie auch das Experimentallabor für junge Leute XLAB in Göttingen aufgebaut und geleitet haben – eine sehr aktive Zeit also.
Für mich war es eine Umbruchsphase. Nach einer gerade begonnenen wissenschaftlichen Laufbahn musste ich mit fünf Kindern eine lange Familienpause einlegen – insgesamt waren es neun Jahre. Danach wollte ich unbedingt wieder in die Wissenschaft. Aber in den 1990er-Jahren gab es für eine Rückkehr in die Forschung praktisch keine Chance. Also suchte ich nach anderen Wegen und entwickelte Pläne für ein Labor, in dem Schüler der Klassen 11 und 13 zusammen mit Wissenschaftlern experimentieren können. Die ersten Kurse konnten wir 1999 in den Laboren der Fakultät für Chemie der Universität Göttingen durchführen; ein Jahr später wurde das XLAB eröffnet. 

In der Öffentlichkeit wurde damals viel über das Humangenom, Stammzellen und grüne Gentechnik diskutiert. Zugleich öffnete sich die Wissenschaft immer mehr für den Austausch mit der Gesellschaft. Gute Voraussetzungen also für das XLAB?
Ja, es kam genau zur richtigen Zeit. Das öffentliche Interesse an Forschungsthemen war groß, aber vielen Menschen fehlte es an naturwissenschaftlichem Basiswissen. Das erwirbt man, davon bin ich überzeugt, am besten beim Experimentieren in gut ausgestatteten Laboren und im persönlichen Kontakt mit Fachwissenschaftlern. Zum Glück konnten wir davon nicht nur viele tolle Forscher der Göttinger Universität überzeugen, sondern auch die niedersächsische Landesregierung, die uns seither sehr unterstützt. Schon bald hatten wir ein eigenes Gebäude, aus aller Welt strömten hochmotivierte, handverlesene Schüler und junge Studierende für mehrtägige Kurse in den Fächern Chemie, Physik, Biologie und Informatik ins Haus. Mit der Zeit konnte ich zwei XLAB-Experimentallabore im Ausland begründen: eines in Argentinien am der Max-Planck-Forschungsstelle in Rosario und ein weiteres im China, in Shenzhen. Beide Projekte werden sehr aktiv von befreundeten Forschern betrieben. Das Interesse am Standort Göttingen ist aber weiterhin ungebrochen, wobei in Corona-Zeiten natürlich die Onlinekurse dominieren. Derzeit wird das XLAB um ein Begegnungszentrum mit Übernachtungsmöglichkeiten erweitert, um für den voraussichtlichen Ansturm nach der Pandemie gerüstet zu sein.

Die Wissenschaft ruft, die Göttinger kommen: Eva-Maria Neher vor einem vollen Hörsaal beim Science Festival 2012. © Theodoro Da Silva

Sie haben sich 2018 aus dem XLAB zurückgezogen, engagieren sich aber weiterhin für das Schülerprogramm der GDNÄ. Wie hat es sich aus Ihrer Sicht entwickelt?
Das Programm ist auf gutem Kurs, würde ich sagen, und ein Gewinn für beide Seiten. Die GDNÄ braucht die jungen Leute, die ihr langfristig neuen Glanz verleihen. Und die Schüler sind begeistert von dem anspruchsvollen Programm, wie die Rückmeldungen zeigen. Manche treffen zum ersten Mal auf Gleichaltrige, die genauso ticken wie sie selbst und sich leidenschaftlich für die Naturwissenschaften interessieren – da ist die Freude natürlich groß. Als ich 2012 in den GDNÄ-Vorstand gewählt wurde, habe ich mich gleich um das Schülerprogramm gekümmert und mit Paul Mühlenhoff einen exzellenten Mitarbeiter aus dem XLAB ins Boot geholt. Er hat sich tief reingekniet in die neue Aufgabe und das Programm zu dem gemacht, was es jetzt ist.

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Ausgezeichnete Gruppe (nach der Verleihung der Niedersächsischen Landesmedaille durch Ministerpräsident Stephan Weil): v.l.n.r.: Martin Kind, Geschäftsführer der Kind-Gruppe und Präsident von Hannover 96; Gudrun Schröfel, Leiterin des Mädchenchors Hannover; MP Weil; Professorin Eva-Maria Neher und der Unternehmer Dirk Roßmann). © Nds. Staatskanzlei

Wo steht das Schülerprogramm heute?
Die jungen Leute übernehmen eine zunehmend aktive Rolle bei den Tagungen. Bei der Versammlung 2016, die in meine Präsidentschaft fiel, haben wir zum Beispiel das Format „Wissenschaft in 5 Minuten“ neu eingeführt. Es handelt sich um eine Art Science Slam von Schülern für Schüler mit dem Ziel, ein Forschungsthema in fünf Minuten verständlich und unterhaltsam darzustellen. Die Teilnehmer sind immer mit großer Begeisterung bei der Sache und können nebenbei das Präsentieren und Diskutieren üben. Für die 200-Jahr-Feier in Leipzig planen wir spannende neue Programmformate – ich freue mich schon darauf.

Das Schülerprogramm ist unbestritten eine wichtige Aufgabe der GDNÄ. Was noch?
Vor allem die anspruchsvolle Wissenschaftskommunikation. Es gibt viele Menschen, die mehr über hochrangige Forschung erfahren wollen – nicht aus Büchern und nicht aus den Medien, sondern aus berufenem Munde von den Wissenschaftlern selbst. Auf ihren Versammlungen geht die GDNÄ schon in diese Richtung. Aber ich würde mir wünschen, dass das künftig in noch stärkerem Maße auch zwischen den Tagungen stattfindet.

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Der Vorstandsvorsitzenden der Sartorius AG , Dr. Joachim Kreuzburg, übergibt im Jahr 2016 einen 3D-Drucker als Geschenk an das XLAB. © Sven Dräger, XLAB

Wenn ich noch etwas Persönliches fragen darf: Sie sind mit einem berühmten Wissenschaftler verheiratet, dem Medizin-Nobelpreisträger Erwin Neher. Man hört immer wieder, dass der Nobelpreis das Leben von Laureaten durcheinanderwirbelt. War das auch in Ihrer Familie so?
Mein Mann hat aktiv verhindert, dass sein Leben durcheinandergewirbelt wurde – und damit hat sich auch für uns nicht allzu viel verändert. Wir sind beide sehr bodenständig, leben in einem kleinen Ort bei Göttingen und haben versucht, unsere Kinder so bescheiden wie möglich großzuziehen. Alle haben ihren Interessen entsprechend ein Studium absolviert und folgen nun selbstbewusst ihrer jeweiligen beruflichen Laufbahn. 

Aus dem Ruhrgebiet stammend sind Sie selbst einen ganz anderen Weg gegangen. Wie betrachten Sie ihn rückblickend?
Ich kam 1950 in Mülheim an der Ruhr als Tochter eines Gärtnereibesitzers zur Welt. Für mich war höchstens ein Realschulabschluss vorgesehen, weil Mädchen, wie es damals hieß, später ja doch heiraten und zu Hause bleiben. Abitur machen durfte ich nur unter der Bedingung, dass ich kein Jahr wiederholen muss. Ich bewarb mich um Aufnahme in das Naturwissenschaftliche Gymnasium, das heute den Namen des Mülheimer Nobelpreisträgers Karl Ziegler trägt – und hatte Erfolg. Damals wurde das Gymnasium von etwa 800 Jungen und nur von vier weiteren Mädchen besucht. Es war eine gute Schule fürs Leben. Ich habe gelernt, meinen Weg auch ohne besondere Privilegien zu gehen.

Saarbrücken 2018 © Robertus Koppies

Prof. Dr. Eva-Maria Neher © Nds. Staatskanzlei

Zur Person

Als GDNÄ-Präsidentin in den Jahren 2015 und 2016 gestaltete Professorin Eva-Maria Neher die Versammlung in Greifswald zum Thema „Naturwissenschaften und Medizin“. Derzeit engagiert sie sich in der Vorbereitung der Festversammlung zum 200-jährigem Bestehen in Leipzig. International bekannt wurde die aus Mülheim an der Ruhr stammende Biochemikerin als Gründerin des XLAB, des Göttinger Experimentallabors für junge Leute. Sie leitete das im Jahr 2000 eröffnete XLAB bis 2018.

Von 1969 bis 1973 studierte Neher Biochemie, Organische Chemie und Mikrobiologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie machte 1974 ihr Diplom und promovierte 1977 mit einer Arbeit über die Regulation der Biosynthese von Poly-β-Hydroxybuttersäure in Alcaligenes eutrophus H16. Danach war sie als wissenschaftliche Assistentin in renommierten Göttinger Forschungsinstituten tätig. Im Anschluss an eine Familienpause leitete Eva-Maria Neher in den 1990er-Jahren Experimentalkurse in den Fächern Chemie und Biologie an der Freien Waldorfschule Göttingen und entwickelte erste Konzepte für das XLAB. Eva-Maria Neher ist seit 1978 mit dem Nobelpreisträger Erwin Neher verheiratet. Sie ist die Mutter von fünf Kindern.

Für ihr gesellschaftliches Engagement wurde die Wissenschaftlerin 2002 mit dem Niedersächsischen Verdienstorden und 2007 mit dem Niedersächsischen Staatspreis ausgezeichnet. In Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Laufbahn und ihrer Verdienste um die naturwissenschaftliche Bildung verlieh die Fakultät für Chemie der Universität Göttingen Eva-Maria Neher 2009 eine Honorarprofessur. 2013 wurde sie mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. 2018 erhielt sie die Niedersächsische Landesmedaille und 2019 den Initiativpreis der Susanne und Gerd Litfin Stiftung. Von 2014 bis 2021 war Neher Vorsitzende des Hochschulrats der Europauniversität Flensburg. Seit 2008 ist sie Mitglied im Hochschulrat der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Niedersachen; seit 2012 hat sie den Vorsitz inne. Eva-Maria Neher ist die Vorsitzende der von ihr gegründeten XLAB-Stiftung zur Förderung der Naturwissenschaften und arbeitet an der Ausgestaltung des XLAB-Begegnungszentrums.

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Das XLAB-Gebäude auf dem Campus der Universität Göttingen. © Architekten Bez+Kock

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